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Essay
zum Sandmann
Olimpia
...denn sie sah ihm unverrückt
ins Auge und seufzte ein Mal
übers andre: „Ach - ach - ach!”
- worauf denn Nathanael also
sprach: „O du herrliche, himmlische
Frau! - du Strahl aus dem verheißenen
Jenseits der Liebe - du tiefes
Gemüt,
in dem sich mein ganzes Sein
spiegelt (...) „Liebst du mich
-
liebst du mich, Olimpia? - Nur
dies Wort! - Liebst du mich?”
so flüsterte Nathanael, aber
Olimpia seufzte, indem sie aufstand,
nur: „Ach - ach!” - „Ja, du
mein holder, herrlicher Liebesstern”,
sprach Nathanael, „bist mir
aufgegangen und wirst leuchten,
wirst verklären mein Inneres
immerdar! - „Ach, ach!” replizierte
Olimpia fortschreitend.
Ein frappierender Dialog. Er
ist E.T.A. Hoffmanns Erzählung
Der Sandmann aus dem Jahr 1816
entnommen.
Da geht jemand eine Interaktion
mit einem Automaten ein und
merkt es nicht. Unfähig sein
soziales Umfeld kritisch wahrzunehmen,
unfähig zur Selbstkritik, taumelt
Nathanael, die Hauptfigur, durch
die Geschichte und fordert allenfalls
des Lesers Mitgefühl. Daran
hat es auch selten gefehlt,
gleichgültig, welcher Interpret
zur Feder griff; auch nicht
an seltsam anmutenden Versuchen,
der Puppe Olimpia im Vergleich
zu Nathanaels Braut Clara Fähigkeiten
zuzuschreiben, die sie gewiß
nicht haben kann: Verständnis
und Zuwendung für Nathanael.
Dabei ist die Motivation, sich
zu einem Automaten hingezogen
zu fühlen, hochmodern. Man kommuniziert
heute weltweit über das Internet
und computergestützte Systeme.
Privateste Mitteilungen, Liebesschwüre
und Treuegelöbnisse schwirren
durch den Äther, wobei Entfernungen
überhaupt keine Rolle spielen,
erreichen die gewünschten Adressaten,
auch und gerade unbekannte,
die anonym bleiben wollen; vielleicht
gibt es Antworten, möglicherweise
verhallen die Bekenntnisse,
und der potentielle Adressat
reagiert nicht. Menschen sitzen
vor dem Apparat wie Nathanael
vor dem Automat, um zu kommunizieren.
Sie verlieben sich in den Unbekannten
und verlieren sich in der Niegesehenen.
Der Apparat und der Automat
übernehmen scheinbar die Funktion
des seelischen Austausches und
suggerieren Nähe. Es soll langanhaltende
Beziehungen auf dieser abstrakten,
vermittelten Ebene heute geben,
ohne daß sich die Partner sehen
oder gar einander begegnen.
Kommt es einmal zu wirklichen
Begegnungen, führen sie zu seelischen
Zusammenbrüchen, oder sie enthüllen
die Vertrautheit der intimen
Geschichte über den Apparat
als entsetzliche Leere: Die
Partner verstummen. Denn nie
haben sie gelernt, sich ernsthaft
auseinanderzusetzen, Verhaltensmuster
der Toleranz und des Verständnisses
einzuüben, nicht im vordergründigen
Harmonisieren, sondern in der
Abgrenzung, damit das eigene
Ich nicht verschwindet. Aktuellen
Zeitungsberichten zufolge gibt
es bereits Untersuchungen, die
belegen, daß über einen längeren
Zeitraum im Netz Surfende ihre
vollkommene Vereinsamung trotz
lebhafter Kommunikation beklagen
und sie langanhaltende Depressionen
aus der Isolierung heraus in
psychischeBehandlung zwingen.
Denn der Apparat macht scheinbar
alles leicht; seine Fähigkeit
zur Ausblendung ist vollkommen.
Eltern klagen und Kinder erzählen,
sie spielten heute nicht mehr
auf der Straße mit anderen Kindern,
Freunden und Kameraden; sie
stritten auch nicht mehr und
kämpften nichts mehr aus. Sie
schalteten den Apparat ein,
um mit dem Freund oder der Freundin
zu kommunizieren. Ärgern sie
sich über den Gesprächspartner
im Netz, surfen sie zum nächsten.
Keine Auseinandersetzung mehr,
ein Knopfdruck erledigt das
Problem schnell und gründlich.
Doch zurück zum Sandmann. Nathanael
setzt sich ja mit Clara nie
wirklich auseinander, ist bei
jeder kleinen Kritik verstimmt
oder bei mangelnder Aufmerksamkeit
narzißtisch gekränkt und läuft
weg. Daß der Automat, daß Olimpia
ihn fesselt, das ständig wiederkehrende
„Ach, ach ach” ihn fasziniert
und ihm vollendeter Ausdruck
höchster Aufmerksamkeit und
zugleicht tiefster Zuneigung
ist, ist nicht nur schöpferische
Darstellung eines Krankheitsfalles,
von Hoffmann in viele Facetten
zerlegt, sondern eine bemerkenswert
weitschauende künstlerische
Vorwegnahme jener oben angedeuteten
Probleme, die uns heute unmittelbar
berühren.
Hoffmann hat das Automatenproblem
- wie viele seiner Kollegen
aus Wissenschaft und Kunst -
wiederholt in seinem Werk dargestellt,
mit immer wieder neuen Fragestellungen
versehen und es auch diskursiv
in den Rahmengesprächen der
Serapions-brüder behandelt,
ohne je diesem für ihn und seine
Zeitgenossen faszinierenden
Sujet erlegen zu sein. Trotz
der Ambivalenz von Befremdung
und Anziehung, die von Automaten
ausging, hat er sich immer eine
hochreflektierte intellektuelle
und seelische Distanz bewahrt.
Es war Franz Kafka, der 1914,
also fast 100 Jahre nach dem
Sandmann, die kleine Erzählung
In der Strafkolonie veröffentlichte,
in der er die Automation einer
Hinrichtungsmaschine und die
Reaktion ihres Konstrukteurs
bei ihrem technischen Versagen
beschrieb. Die Peinlichkeit,
die Kafka eingestandenermaßen
bei der Niederschrift empfand,
war die Peinlichkeit eines ganzen
Zeitalters: seinen sadomasochistischen
Charakter aufgedeckt und mit
den Mitteln der Kunst vollkommen
dargestellt zu haben.
Der Konstrukteur der Hinrichtungsmaschine
überwacht penibel die bevorstehende
Tötung eines Delinquenten. Als
die Technik versagt, legt er
sich in den Apparat hinein,
um die Perfektion seiner eigenen
Konstruktion an sich selbst
auszutesten. Die Maschine wird
wieder in Gang gesetzt. Jetzt
funktioniert sie und tötet ihn.
Die Überzeugung von der Vollkommenheit
des Apparates hat sich so im
Über-Ich seines Konstrukteurs
festgesetzt, daß er, um die
Zuverlässigkeit der Maschine
und die Korrektheit seiner Arbeit
zu beweisen, den eigenen Tod
bewußt in Kauf nimmt und sich
selbst exekutiert.
© Copyright Friedhelm Auhuber
1997
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