LITERATUR WISSENSCHAFT

 

Friedhelm Auhuber

Olimpia

 Essay Olimpia                                                         08/02


Essay zum Sandmann

  Olimpia
...denn sie sah ihm unverrückt ins Auge und seufzte ein Mal übers andre: „Ach - ach - ach!” - worauf denn Nathanael also sprach: „O du herrliche, himmlische Frau! - du Strahl aus dem verheißenen Jenseits der Liebe - du tiefes Gemüt, 
in dem sich mein ganzes Sein spiegelt (...) „Liebst du mich -
liebst du mich, Olimpia? - Nur dies Wort! - Liebst du mich?” so flüsterte Nathanael, aber Olimpia seufzte, indem sie aufstand, nur: „Ach - ach!” - „Ja, du mein holder, herrlicher Liebesstern”, sprach Nathanael, „bist mir aufgegangen und wirst leuchten, wirst verklären mein Inneres immerdar! - „Ach, ach!” replizierte Olimpia fortschreitend.

Ein frappierender Dialog. Er ist E.T.A. Hoffmanns Erzählung Der Sandmann aus dem Jahr 1816 entnommen.

Da geht jemand eine Interaktion mit einem Automaten ein und merkt es nicht. Unfähig sein soziales Umfeld kritisch wahrzunehmen, unfähig zur Selbstkritik, taumelt Nathanael, die Hauptfigur, durch die Geschichte und fordert allenfalls des Lesers Mitgefühl. Daran hat es auch selten gefehlt, gleichgültig, welcher Interpret zur Feder griff; auch nicht an seltsam anmutenden Versuchen, der Puppe Olimpia im Vergleich zu Nathanaels Braut Clara Fähigkeiten zuzuschreiben, die sie gewiß nicht haben kann: Verständnis und Zuwendung für Nathanael.

Dabei ist die Motivation, sich zu einem Automaten hingezogen zu fühlen, hochmodern. Man kommuniziert heute weltweit über das Internet und computergestützte Systeme. Privateste Mitteilungen, Liebesschwüre und Treuegelöbnisse schwirren durch den Äther, wobei Entfernungen überhaupt keine Rolle spielen, erreichen die gewünschten Adressaten, auch und gerade unbekannte, die anonym bleiben wollen; vielleicht gibt es Antworten, möglicherweise verhallen die Bekenntnisse, und der potentielle Adressat reagiert nicht. Menschen sitzen vor dem Apparat wie Nathanael vor dem Automat, um zu kommunizieren. Sie verlieben sich in den Unbekannten und verlieren sich in der Niegesehenen. Der Apparat und der Automat übernehmen scheinbar die Funktion des seelischen Austausches und suggerieren Nähe. Es soll langanhaltende Beziehungen auf dieser abstrakten, vermittelten Ebene heute geben, ohne daß sich die Partner sehen oder gar einander begegnen. Kommt es einmal zu wirklichen Begegnungen, führen sie zu seelischen Zusammenbrüchen, oder sie enthüllen die Vertrautheit der intimen Geschichte über den Apparat als entsetzliche Leere: Die Partner verstummen. Denn nie haben sie gelernt, sich ernsthaft auseinanderzusetzen, Verhaltensmuster der Toleranz und des Verständnisses einzuüben, nicht im vordergründigen Harmonisieren, sondern in der Abgrenzung, damit das eigene Ich nicht verschwindet. Aktuellen Zeitungsberichten zufolge gibt es bereits Untersuchungen, die belegen, daß über einen längeren Zeitraum im Netz Surfende ihre vollkommene Vereinsamung trotz lebhafter Kommunikation beklagen und sie langanhaltende Depressionen aus der Isolierung heraus in psychischeBehandlung zwingen.

Denn der Apparat macht scheinbar alles leicht; seine Fähigkeit zur Ausblendung ist vollkommen. Eltern klagen und Kinder erzählen, sie spielten heute nicht mehr auf der Straße mit anderen Kindern, Freunden und Kameraden; sie stritten auch nicht mehr und kämpften nichts mehr aus. Sie schalteten den Apparat ein, um mit dem Freund oder der Freundin zu kommunizieren. Ärgern sie sich über den Gesprächspartner im Netz, surfen sie zum nächsten. Keine Auseinandersetzung mehr, ein Knopfdruck erledigt das Problem schnell und gründlich.

Doch zurück zum Sandmann. Nathanael setzt sich ja mit Clara nie wirklich auseinander, ist bei jeder kleinen Kritik verstimmt oder bei mangelnder Aufmerksamkeit narzißtisch gekränkt und läuft weg. Daß der Automat, daß Olimpia ihn fesselt, das ständig wiederkehrende „Ach, ach ach” ihn fasziniert und ihm vollendeter Ausdruck höchster Aufmerksamkeit und zugleicht tiefster Zuneigung ist, ist nicht nur schöpferische Darstellung eines Krankheitsfalles, von Hoffmann in viele Facetten zerlegt, sondern eine bemerkenswert weitschauende künstlerische Vorwegnahme jener oben angedeuteten Probleme, die uns heute unmittelbar berühren.

Hoffmann hat das Automatenproblem - wie viele seiner Kollegen aus Wissenschaft und Kunst - wiederholt in seinem Werk dargestellt, mit immer wieder neuen Fragestellungen versehen und es auch diskursiv in den Rahmengesprächen der Serapions-brüder behandelt, ohne je diesem für ihn und seine Zeitgenossen faszinierenden Sujet erlegen zu sein. Trotz der Ambivalenz von Befremdung und Anziehung, die von Automaten ausging, hat er sich immer eine hochreflektierte intellektuelle und seelische Distanz bewahrt.

Es war Franz Kafka, der 1914, also fast 100 Jahre nach dem Sandmann, die kleine Erzählung In der Strafkolonie veröffentlichte, in der er die Automation einer Hinrichtungsmaschine und die Reaktion ihres Konstrukteurs bei ihrem technischen Versagen beschrieb. Die Peinlichkeit, die Kafka eingestandenermaßen bei der Niederschrift empfand, war die Peinlichkeit eines ganzen Zeitalters: seinen sadomasochistischen Charakter aufgedeckt und mit den Mitteln der Kunst vollkommen dargestellt zu haben.

Der Konstrukteur der Hinrichtungsmaschine überwacht penibel die bevorstehende Tötung eines Delinquenten. Als die Technik versagt, legt er sich in den Apparat hinein, um die Perfektion seiner eigenen Konstruktion an sich selbst auszutesten. Die Maschine wird wieder in Gang gesetzt. Jetzt funktioniert sie und tötet ihn. Die Überzeugung von der Vollkommenheit des Apparates hat sich so im Über-Ich seines Konstrukteurs festgesetzt, daß er, um die Zuverlässigkeit der Maschine und die Korrektheit seiner Arbeit zu beweisen, den eigenen Tod bewußt in Kauf nimmt und sich selbst exekutiert.

© Copyright Friedhelm Auhuber 1997


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Friedhelm Auhuber, 2002.
Foto Susanne Zametzer


Köngiskasper & Kinder
Zeichnung, 1998


Mobiler Königskasper
Zeichnung, 1998