LITERATUR WISSENSCHAFT

 


Kapigel-Übersicht
Der medizinische psychologische Kontext um 1800
Formen der Rezeption in Hoffmanns Prosa
Der produktive Dissens
Buch-Info (in Vorbereitung - 18.04.2003)


Friedhelm Auhuber

"Hochgebietende Vernunft, 
mißtönend wie verstimmte Glocken"

E.T.A. Hoffmann 
und die Psychologie seiner Zeit


Der medizinische psychologische Kontext um 1800
„Den Wert eines poetischen Werkes habe ich gewagt ihm abzusprechen, aber den eines wissenschaftlichen gebe ich ihm willig. Es ist ein Lehrbuch mit den schönsten Bildnissen geziert, es ist der elegante Pinel, es ist die Epopee des Wahnsinns“.1 So schloß 1820 Ludwig Börne seine alles in allem unfreundliche Rezension der Serapionsbrüder, eine in dieser Form allein dastehende Aussage über Hoffmanns Werk. Zieht man eben jene Serapionsbrüder - eine Sammlung von Erzählungen, die Hoffmann einzeln in Almanachen veröffentlichte, dann zusammenstellte, zu vier Bänden vereinigte und eine Runde geselliger Mitglieder dazu erfand, die sich Geschichten erzählten - zieht man diese Erzählsammlung heran, behält Börne recht. Dort kreisen die Gespräche zum guten Teil auch um Magnetismus, Vampyrismus, Okkultismus, um Nervenkrankheiten, fixe Ideen und Wahnsinn in all seinen damals bekannten Erscheinungsformen. Hoffmanns spezifisch künstlerische Verfahrensweise, seine Fähigkeit, Probleme der Naturwissenschaft und Medizin in seine Prosa zu integrieren, streitet Börne ab. Was er ihm jedoch ausdrücklich zuzugestehen scheint, sind ausgezeichnete Kenntnisse über Psychiatrie und Psychologie. Diese Kenntnisse bescheinigt ihm auch etwas unwillig Hoffmanns Freund, erster Biograph und Kollege, der Jurist Julius Eduard Hitzig, der ihm vorwarf, Hoffmann würde sich bei Abfassung seiner juristischen Gutachten in den Fällen, in denen es „auf die Beurteilung zweifelhafter Gemütszustände ankam“, in Erörterungen verlieren, „die nur in das Gebiet der psychischen Arzneikunst und nicht in das der Rechtswissenschaft gehörten.“2

In der Tat: Der vielseitige Künstler, gewissenhafte Jurist und heute noch wegen seiner Schauergeschichten und spannender Kriminalerzählungen gern gelesene Dichter E.T.A. Hoffmann (1776-1822) war seit seinem Aufenthalt in Bamberg (1808-1813) bis in die letzten Tage seines Lebens in Berlin mit Fragen der Medizin und Psychologie befaßt. Seine fundierte Kenntnis bezog er vor allem aus persönlichen Bekanntschaften mit namhaften Ärzten wie Adalbert Friedrich Marcus (Direktor des gesamten Medizinalwesens in Franken), Friedrich Speyer, der in Jena bei Fichte und Schelling studiert hatte, Christian Pfeufer, Stadtgerichtsarzt, der nach Marcus Tod (1816) Leiter des Allgemeinen Krankenhauses in Bamberg wurde, oder David Ferdinand Koreff (Leibarzt des preußischen Staatskanzlers Hardenberg) in Berlin. Mit diesen Ärzten pflegte er geselligen Umgang, diskutierte über Fragen der Medizin, und er besuchte auch die Irrenanstalt St. Getreu in Bamberg, um die Kranken zu sehen. Nachgewiesen ist ferner eine gründliche Lektüre zahlreicher wissenschaftlicher Werke berühmter Autoren wie Johann Christian Reil, Immanuel Kant, Johann Daniel Metzger, Wilhelm Hufeland, Karl Philipp Moritz, Ernst Horn, Carl Alexander Ferdinand Kluge, Vincenzo Chiarugi, Christian Ludwig Paalzow und Philippe Pinel, um nur die wichtigsten zu nennen. Diese Namen und die Arbeiten finden sich in seinen Briefen und Tagebüchern, in seinen juristischen Gutachten und vor allem in seinem Werk oft genug selbst. Kranke, Verrückte, an fixen Ideen Leidende, Melancholiker und Hypochondristen treten derart häufig in seinem Werk auf, daß „man leicht einen ganzen Flügel der neuen Heilanstalt hätte bevölkern können“ [gemeint ist St. Getreu in Bamberg, F.A.].
3


Mit der Gestaltung dieser Krankheitsbilder bewegte sich Hoffmann im medizinischen und literarischen Kontext seiner Zeit. In der schöngeistigen Literatur waren Melancholie und Wahnsinn zumeist als spezifische Künstlerkrankheiten thematisiert, aber auch als pathologische Fälle, so bei Novalis, Jean Paul, Tieck, Arnim, Bonaventura, Brentano, Hölderlin und Kleist. Ihnen allen war der medizinische Kontext, wie er sich im Folgenden in etwa darstellt, sehr gut vertraut.
4


Seit dem letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts erscheinen in Deutschland in rascher Folge medizinische Untersuchungen über den Wahnsinn, der besonders in England, Frankreich und Italien heftig diskutiert wurde. Bücher englischer, französischer und italienischer Autoren, wie die von William Battie, John Haslam, William Pargeter, Benjamin Rush, Thomas Arnold, William Perfect, Philippe Pinel und Vincenzo Chiarugi wurden oft noch im Erscheinungsjahr ins Deutsche übertragen und fanden in den Fachkreisen weite Verbreitung. Aber während die Ärzte Englands und etwas später Pinel und Esquirol in Frankreich Wert darauf legten, praktisch in der Irrenfürsorge und in der Behandlung der Wahnsinnigen tätig zu werden, entwarf man in Deutschland Modelle und erschloß sich theoretisch weite Räume, die praktisch aber nie abgeschritten wurden. Mit Hilfe der Naturphilosophie Schellings sollte dessen gedankliches Modell der Einheit des Alls, der Identität von Geist und Natur, der Verbindung des Makrokosmos (Natur) mit dem Mikrokosmos (Mensch) auf die Medizin und Therapie übertragen und die Einheit, die durch Krankheit verlorengegangen ist, wieder hergestellt werden. Allen Ärzten, besonders den deutschen, ist bei zahlreichen kleinen Unterschieden in der Auffassung über Klassifizierung von Geisteskrankheiten, über Diagnose und Therapie dreierlei gemeinsam:


1. Die Abwendung von der Humoralpathologie, deren vorzügliche Heilmethode das Abzapfen von Blut war, um psychische Leiden zu lindern (ihre Tradition reicht von der Antike bis ins 18. Jahrhundert). Reil (1759-1813), neben Hufeland der berühmteste deutsche Arzt um die Wende zum 19. Jahrhundert, kritisiert diese Therapie: „Dazu kömmt noch die meistens falsche Behandlung des Wahnsinns durch Aderlässe, Purganzen und Brechmittel, die die Naturkräfte vollends zerstört, durch welche eine heilsame Crise hätte zu Stande kommen können“ (Rh, 430)   5. Sie wird abgelöst von der Vorstellung, nicht das Ungleichgewicht der Säfte sei schuld am durcheinandergeratenen Seelenhaushalt, sondern Nervenleiden. Entzündete und verknotete Nerven (Ganglien), unterbrochene Leitungen, sind es, die nach der Auffassung der Medizin an der Wende zum 19. Jahrhundert Melancholie, partiellen Wahnsinn, fixe Ideen usw. provozieren. Und wenn jetzt „Form und Mischung des Gehirns und der Nerven“ (ECF, 123) nicht mehr stimmen, müssen sie in Einklang gebracht werden mit Erregung oder Beruhigung der Nerven. Wurden in der Humoralpathologie Störungen des Seelenlebens als somatische Krankheiten behandelt, so mußte man jetzt zu psychischen Mitteln greifen, um Seelenstörungen zu beheben. Folgerichtig fand die psychische Behandlungsmethode bereits Eingang in die Titel der meisten Arbeiten. Die psychischen Kuren, deren berühmtester theoretischer Verfechter Johann Christian Reil war, beschränken sich eben auf die Ruhigstellung der Nerven. In extremen Fällen waren es Zwangsmittel, in leichteren zählten Schlaf, lange Spaziergänge, frische Luft, ernsthafte Beschäftigung, auch sorgfältig ausgewählte Lektüre, Theaterbesuche usf. zu den bevorzugten Empfehlungen. 


2. Die deutschen Mediziner hatten größte Schwierigkeiten, zu Theoriebildungen zu kommen; die Einflüsse reichen vom Brownianismus und der Erregungstheorie über den Magnetismus bis zur Naturphilosophie, die der Spezialisierung der Ärzte entgegentrat und den Menschen als integrierten Teil der Natur umfassend in eine Therapie einbezogen sehen wollte. Um es kurz zu sagen: eine Theoriebildung gelang nicht, mit der Folge, daß die Mediziner sich untereinander Fallgeschichten erzählten und voneinander abschrieben, ohne aber zu versäumen, ihre Eigenständigkeit trotzdem zu betonen. Das gilt auch dann, wenn die Grenzen ihrer nosologischen Systeme verschwimmen, oder die Kriterien der Kritik der Ärzte untereinander überhaupt nicht überzeugen können: Reil kritisiert Thomas Arnolds Einteilung des Wahnsinns und Philippe Pinels Therapievorschläge, scheut sich aber nicht, von beiden seitenlang abzuschreiben.


3. Die Mediziner, orientiert am Ganzheitsdenken der Naturphilosophie, kamen immer dann in Zwiespalt mit der Durchführung therapeutischer Maßnahmen, wenn sie gleichzeitig den praktischen Anforderungen der Gesellschaft gerecht werden wollten. Die Mediziner waren Delegierte des Staates und handelten in seinem Auftrag. Obenan standen immer Nützlichkeit und Verwertbarkeit der Bürger. So abstrakt das theoretisch noch klingt, so konkret sah die Durchführung aus. Der Wahnsinn wurde aus der Gesellschaft ausgegliedert, Irrenanstalten entstanden. Oberstes Ziel der Ärzte, dem alle anderen untergeordnet waren, blieb, den Wahnsinnigen zur Vernunft zurückzuführen, um ihn als funktionierendes Mitglied wieder in die Gesellschaft einreihen zu können. Vernunft und Wahnsinn stehen sich bei der Behandlung starr gegenüber; der Kranke wird ausschließlich in ihrem Sinne behandelt. Die Heilerfolge blieben trotz aller gegenteiligen optimistischen Beteuerungen gering. Die Mediziner vertreten rigide Auffassungen von Normalität und Anormalität, von Krankheit und Gesundheit, die es ihnen erlauben, eine Linie zu ziehen zwischen ‘krank’ und ‘gesund’. Obwohl sich Reil, und nicht nur er, der Problematik einer Grenzziehung durchaus bewußt ist, hält er daran fest: die Fackel der Vernunft „erstickt die Geburten der Nacht“ (Rh, 343). Die Therapie besteht nun darin, (hat man einmal die Krankheiten klassifiziert und diagnostiziert), den geistig Erkrankten zur Einsicht zu bewegen, den Pfad der Vernunft zu beschreiten, um wieder in die Gesellschaft zurückfinden zu können. Gelingen ihre Verfahren nicht, werden die Kranken weiter von der Gesellschaft ferngehalten. Dies geschieht nun keineswegs mitleidlos, im Gegenteil: Die Ärzte dringen entschieden darauf, die verheerenden Verhältnisse in den Irrenanstalten zu verbessern.- Aus der Sicht von heute scheinen diese Ausführungen müßig, ja eine Binsenweisheit zu sein, weil sich an der psychiatrischen Praxis seither nicht viel geändert hat. Historisch gesehen, und darum geht es hier, war die Ausgrenzung der Unvernunft seit dem 18. Jahrhundert neu, lebten doch bis dahin die „armen Irren“ stigmatisiert durch eigene Schuld und Sünde in der Gesellschaft.


Es ist die Generation der Romantiker, früher oft belächelt wegen ihrer Rückzugsgefechte ins mystifizierte Mittelalter, die gegen die scharfe Grenzziehung Sturm läuft und die strikte Trennung zwischen ‘gesund’ und ‘krank’ nicht anerkennen will. Darin steckt auch die Brisanz romantischer Poesie, deren gesellschaftskritischer Impetus mehr und mehr erkannt wird. Sie verwerfen nun den Vernunftbegriff keineswegs pauschal; sie kritisieren aber seinen Gebrauch dort, wo das theoretische Ideal in unmenschliche Praxis umzuschlagen droht; wird der hohe Begriff absolut gesetzt, geschehen im Namen der Menschlichkeit Ungerechtigkeiten, wie eben die Behandlung der Irren in den Anstalten zeigt. Romantik ist (auch) entschiedene Kritik an einer Aufklärung, die in der Folge nicht mehr wahrzunehmen bereit ist, daß intendierte Menschlichkeit sich ins Gegenteil zu kehren droht, wenn ihre Prämissen nicht mehr überprüft werden und man fraglos in Kauf nimmt, was bereits fragwürdig geworden ist. In romantischer Prosa stellt sich diese Kritik so dar, daß Behandlungsmethoden und Ausgrenzungspraxis unverhohlen kritisiert werden. Darüber hinaus integrieren die Dichter in ihre Prosa Fallgeschichten mit negativen Ausgängen, bei denen Mediziner dennoch optimistisch von Heilerfolgen ausgehen. So geraten die medizinischen Schriften oft zur Negativfolie der Kunst.



Formen der Rezeption in Hoffmanns Prosa


Wie stellt sich nun in Hoffmanns Werk die Rezeption der Psychologie im einzelnen dar?

In seinem bekanntesten (und sehr oft schon interpretierten) Märchen Der goldne Topf (1814) ist das Schicksal des an Melancholie leidenden Anselmus als Krankheitsverlauf nach medizinischen Quellen geschildert (vor allem jene von Chiarugi und Reil). Hoffmann läßt seinen Erzähler die Melancholie in ihrer doppelten Gestalt schildern: als nobilitierende Künstlerkrankheit, die aber gleichzeitig Anselmus gefährdet und in den Wahnsinn treibt. Das Pathologische wird in der Erzählung ebenso sichtbar gemacht: Anselmus wird am Ende wahnsinnig, geht aus dem irdischen Leben unter großen Schmerzen, verschwindet sogar aus der Erzählwelt des Märchens, um künftig ein armseliges Dasein auf einem imaginären Rittergut in Atlantis zu fristen.

In der berühmten Erzählung Der Sandmann (1815), die auch den Psychoanalytiker Sigmund Freud 100 Jahre später sehr beeindrucken wird,
6 gestaltet Hoffmann die Geschichte eines partiell Wahnsinnigen, dessen Krankheitsverlauf mit Kindheitstraumata beginnt, zu einem gespaltenen Bewußtsein des bereits erwachsenen Nathanael führt - er leidet an zwei fixen Ideen: Coppelius ist der Zerstörer seiner Liebe und der Vernichter seines Lebens, und die Puppe Olimpia betrachtet er schließlich uneingeschränkt als Lebewesen -, um mit einer grausigen Todesszene zu enden (Nathanael stürzt sich in vollkommener geistiger Umnachtung von einem Turm).


Die Erzählskizze Der Einsiedler Serapion (1818) veranschaulicht, wie Cyprian, der Erzähler jener Geschichte, sich einst auf den Weg gemacht hatte, um einen Mann - es ist der Graf P., ein Jurist und Diplomat - von der fixen Idee zu befreien, er sei der Märtyrer Serapion, der unter Kaiser Decius 250 n. Chr. hingerichtet worden war; Bamberg, so ist er sich sicher, sei Alexandria und sein Gärtlein im Wald eine Oase inmitten der Thebaischen Wüste. Ausgestattet mit medizinischen Kenntnissen, gewonnen aus der Fachliteratur, strebt Cyprian danach, Serapions fixe Idee zu tilgen, um den Mann zur Vernunft zurückzuführen. Doch seine Kur scheitert kläglich. Serapion wird nicht im Sinne der Vernunft geheilt. Während Cyprian seine therapeutischen Bemühungen einstellt, vollzieht sich bei ihm gleichzeitig eine Wandlung. Er akzeptiert fortan die andere Realität Serapions, erkennt ihre immanente Logik und hebt auf Grund dieser Erkenntnis die Distanz zwischen Gesundheit und Krankheit auf. Er unterhält sich mit Serapion auf dessen Wirklichkeitsebene und lernt staunend die Möglichkeit zweier gleichberechtigter Daseinsformen kennen. 


Diese Erzählskizze führt zum übergeordneten Gedanken von Hoffmanns Kritik an der Medizin und Anthropologie seiner Zeit. Sie galt immer dem Gesundheitsbegriff der Aufklärung aus dem 18. Jahrhundert, die ihr Ideal aus den normativen Kriterien der Vernunft entwickelt hatte, um mit ihrer Hilfe psychisch Kranke (Melancholiker, Wahnsinnige, an fixen Ideen Leidende) zu kurieren. Diesen zentralen Aspekt des Verhältnisses von Wahnsinn und Vernunft hat Hoffmann seit Beginn seiner literarischen Karriere (1807/08 schreibt er die erste erhaltene Erzählung Ritter Gluck) immer wieder problematisiert. Im Juni 1822 diktiert er, an den Händen bereits gelähmt, die großartige Erzählung Die Genesung, in der ein partiell Wahnsinniger die fixe Idee hat (die vielleicht gar nicht so verrückt ist), die Natur habe dem Menschen wegen seines leichtfertigen Umgangs mit ihr zur Strafe die Fähigkeit genommen, das Grün wahrzunehmen.


Schon an Hoffmanns erster erhaltener Erzählung lassen sich die verschwimmenden Grenzen von Krankheit und Gesundheit beobachten. Entstehungsgeschichte und Modus der Darstellung beweisen Hoffmanns Faszination am Sujet: Der Erzähler sucht und pflegt den  Umgang mit einem gesellschaftlichen Außenseiter, der glaubt, der bereits 1787 verstorbene Komponist Christoph Willibald Gluck zu sein. Hoffmanns Darstellungskunst hält bis zuletzt die Identitätsfrage offen, während sein Erzähler dauernd nach Aufklärung strebt. Er sucht ihn in den Straßen Berlins; entdeckt er ihn, will er die Gelegenheit nutzen, den sonderbaren Mann zu sich in die Wohnung einzuladen. Doch der lehnt ab, bittet statt dessen den Erzähler zu sich. Auf das Läuten wird geöffnet, doch die Torwächter bleiben unsichtbar. Der Sonderling geht im oberen Stockwerk zu seinen Räumen und verschließt sie nach dem Eintreten sorgfältig. Beklommen vom „düsteren Ansehn verjährter Pracht“ (I, 26)
7 und 
äußerst irritiert vom merkwürdigen Klavierspiel, verlangt der Erzähler nach Aufklärung: 

„Er stand auf und maß mich mit ernstem, durchdringendem Blick; doch als ich weiter fragen wollte, war er mit dem Lichte durch die Türe entwichen und hatte mich im Finstern gelassen. Es hatte beinahe eine Viertel-Stunde gedauert; ich verzweifelte, Ihn wieder zu sehen, und suchte, durch den Stand des Klaviers orientiert, die Türe zu öffnen, als er plötzlich in einem gestickten Galakleide, reicher Weste, den Degen an der Seite, mit dem Lichte in der Hand hereintrat. Ich erstarrte; feierlich kam er auf mich zu, faßte mich sanft bei der Hand und sagte, sonderbar lächelnd: »Ich bin der Ritter Gluck!«“(I, 28; H.i.O.).


Dieser Schlußsatz ist frappierend. Mit dem kursiv gesetzten: Ich bin der Ritter Gluck! definiert ein Verrückter seine Identität, aber die Pointe liegt bereits außerhalb der Erzählung. Diese fehlenden Worte jenseits des Textes lassen den Leser - wie Ritter Gluck - im wahrsten Sinne des fehlenden Wortes allein. Innerhalb des Textes wird eine Identität in dreifacher Weise in Frage gestellt: bei jenem, der sich für Ritter Gluck hält; beim Autor, der den Schlußsatz niederschreibt, und beim Leser, der während der Lektüre erfahren muß, daß er selbst Ritter Gluck sein könnte. Das Paradoxon: der Text entzieht sich mit dem Schlußsatz dem Leser, um ihn desto tiefer in ihn zu verstricken. Ein Vexierspiel im Zwielicht der Aufklärung zwischen Wahnsinn und Vernunft. Aus dem vermeintlichen Schatten des Wahnsinns heraus wird ein Licht von Ritter Gluck in den Raum der Vernunft getragen. Dort halten sich Erzähler und Leser auf - beide gleichermaßen geblendet.


Hoffmann stellt die Therapien der Medizin, und den Umgang der Mediziner mit den Wahnsinnigen, sämtlich in Frage, verwirft die Konzepte der Ärzte Reil, Hoffbauer, Chiarugi u.a. In seinen Erzählungen finden sich zahlreiche Fälle mit negativen Ausgängen an den Stellen, wo die Mediziner noch Heilerfolge erwarten oder erhoffen (Eine Spukgeschichte, Der goldne Topf, Der Sandmann, Das öde Haus, Der Einsiedler Serapion, um nur die wichtigsten zu nennen). Diese „Fallbeschreibungen“ mit negativen Ausgängen sind gleichzeitig der erste Schritt von Hoffmanns produktiver Rezeption der zeitgenössischen Medizin und Psychologie.


Damit einher geht etwas ganz anderes. Noch faszinierender waren für ihn zweifellos die Fragen des Umgangs der Bürger mit den Künstlern, Außenseitern und Verrückten. (Diese Faszination wird bereits am Ritter Gluck deutlich.) Während die Medizin und Psychiatrie die Kranken und Wahnsinnigen schlicht ausgrenzt und in schweren Fällen interniert, finden sie sich in Hoffmanns Prosa in der Gesellschaft wieder (Nathanael im Sandmann, Ritter Gluck, der in den Straßen Berlins sein Wesen treibt, oder der alte Onkel Siegfried in Die Genesung).Die Bürgerfiguren sind so zum Umgang veranlaßt und zur Reaktion gezwungen, ob sie nun Veronika und Heerbrand im Goldnen Topf, Klara und Siegmund im Sandmann oder Theodor im Öden Haus heißen. Hierin liegt auch die Brisanz dieser Texte. Die unmittelbare Nähe von Kranken und Gesunden läßt Vexierbilder zwischen Vernunft und Wahnsinn entstehen, so daß über die immer gesehenen zwei Wirklichkeiten (Philister/Künstler) hinaus viele Wirklichkeiten entstehen. Gewiß galten Hoffmanns Interesse und seine Sympathie vorrangig den Künstlern, die Bürger fielen jedoch selten gänzlich schroffen Urteilen zum Opfer. Unter dem wechselseitigen Bezug von Krankheit und Gesundheit verlagern sich die Gewichte. Hoffmanns Aufmerksamkeit ist nicht entgangen, daß die Reaktionen der Bürger dem Künstler und gesellschaftlichen Außenseiter gegenüber oft ängstliche Abwehr ist, um andere, ihnen befremdliche Seelennöte, die sie aber als Teil ihrer selbst ahnen, von sich fernzuhalten. Diese Schwächen (bei Künstlern und Bürgern) faszinierten Hoffmann, deshalb hielt er sich nicht lange mit der Konstruktion von Gegensätzen auf.



Der produktive Dissens
Doch zurück zur Medizin; mit den Mitteln der Kunst zeigte Hoffmann ihr Scheitern auf ihrem eigenen Gebiet. Gleichzeitig erkannte er aber, daß Poesie und Musik über die Medizin hinausgelangen könnten. Geeignete Formen hat Hoffmann gesucht und gefunden.


So wird in den Rahmengesprächen der Serapionsbrüder über Kunst, kulturelles Leben, Politik und eben auch über Fragen der Medizin diskutiert. Noch wichtiger: Es werden geradezu Therapieformen durch das gesellige Gespräch erprobt.


In Das Sanctus (1816) wird vorgeführt, wie ein professioneller Arzt versagt, während zwei Künstler - der reisende Enthusiast als Erzähler und ein Komponist - durch funktionales Zusammenspiel den psychischen Defekt der Sängerin Bettina beheben. Indem Hoffmann die Medizin poetisiert und die Kunst zur Heilkunst befähigt sieht, korrigiert er die zeitgenössischen Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit.


Die Ausgangssituation ist in der Erzählung Des Vetters Eckfenster (1822) so gestaltet, daß ein junger Gesunder seinen alten kranken Vetter besucht und bei ihm Trostlosigkeit und „schwärzeste Melancholie“ (VIII, 442) feststellen muß. Doch die Szenerie wechselt die Farben, als der Kranke zu erzählen beginnt. Die Faszination geht von der Wahrnehmung des bunten Lebens aus, von der Vielfalt des Lebendigen auf dem Marktplatz, den er vom Fenster aus beobachtet. Eine Gestalt scheint ihn dort besonders zu fesseln - die des Blinden, dessen Schicksal er emotional mit seinem eigenen verbindet: „Es gibt für mich keinen rührendern Anblick, als wenn ich einen solchen Blinden sehe, der mit emporgerichtetem Haupt in die weite Ferne zu schauen scheint. Untergegangen ist für den Armen die Abendröte des Lebens, aber sein inneres Auge strebt schon das ewige Licht zu erblicken, das ihm in dem Jenseits voll Trost, Hoffnung und Seligkeit leuchtet“ (VIII, 462). Diese Diagnose kommt einer Selbstdiagnose gleich. Neben der Resignation ahnen beide eine bessere Zeit und verlassen so die eingegrenzten Gebiete irdischer Beschränkung: Der Lebensschicksale formulierende Gelähmte qua künstlerischer Fähigkeit, der Blinde mit einem inneren Auge, das die Nacht, die ihn umfaßt, durchdringt. Das bestätigt die Wiederkehr des Horazverses am Ende der Erzählung „Et si male nunc, non olim sic erit!“ (VIII, 471) eindrucksvoll. Das Jetzt (nunc), das Einst (olim) und das in die Zukunft weisende erit nimmt das hellere Dasein noch zu Lebzeiten vorweg wie die vom alten Vetter interpretierte Schau des Blinden auch. Diese Sensibilität des Kranken dem Blinden gegenüber führt von der angestrebten, wenn auch nicht erreichten Selbsttherapie, zur Linderung. Die Linderung ging von der Kraft des Erzählens aus und von den reichen Einsichten über die Wechselwirkungen von Krankheit, Kunst und Leben. An der Figur des alten Vetter zeigt Hoffmann, daß Bewußtsein und Reflexion notwendig sind, um auf die künftige irdische Feier einer besseren Zeit wenigstens hinweisen zu können. So finden sich in der Erzählung, aller Trauer unerachtet, Mittel und Wege zur Therapie der Gesellschaft, gleichsam als poetisches Vermächtnis demonstriert. Ihr wird empfohlen, produktive Unruhe als wünschenswert gelten zu lassen, Lebendigkeit gegen erstarrte Formen zu setzen, das Abgelebte, oft verborgen in alten Institutionen, zu erkennen und zu erneuern, um drohenden Stillstand aufheben und Lähmungser- scheinigungen in gesellschaftlichen Leben überwinden zu können: Der Markt hat sich geleert, die Verkäuferinnen packen zusammen und beladen ihre Wagen: „... geschäftiger zeigte sich die Polizei, alles und vorzüglich die Wagenreihe in gehöriger Ordnung zu erhalten; diese Ordnung wäre auch nicht gestört, wenn es nicht hin und wieder einem schismatischen Bauerjungen eingefallen wäre, quer über den Platz seine eigne neue Beringsstraße zu entdecken, zu verfolgen und seinen kühnen Lauf mitten durch die Obstbuden, geradezu nach der Türe der deutschen Kirche, zu richten. Das gab denn viel Geschrei und viel Ungemach des zu genialen Wagenlenkers“(VIII, 470). Die Szene mit der Entdeckung der Beringstraße nach dem gesellschaftlichen Treiben am Ende des Markttages ist eine Metapher und verweist auf die Abenteuer des Lebens, die es immer wieder von neuem zu bestehen gilt.


Zwei Monate nach Des Vetters Eckfenster diktiert Hoffmann eine, oberflächlich gesehen, einfache, in Wahrheit vielleicht seine hintergründigste Erzählung: Die Genesung.


Anfang oder Mitte Juni 1822 unternimmt der bereits an Händen und Füßen gelähmte Hoffmann eine letzte Ausfahrt (4 Leute müssen ihn in den Wagen tragen) und ist, wie Hitzig berichtet, vom Anblick des Grüns erschüttert: „‘Gott es soll Sommer sein’, jammerte er,  ‘und ich habe noch keinen grünen Baum gesehen.’ Und als er zum ersten Mal hinaus kam ins Freie, entstürzten ihm die hellen Tränen und er wurde ohnmächtig vor der Gewalt des Eindrucks. Nach seiner Heimkehr faßte er den Plan zu der kleinen (...) Erzählung: Die Genesung, die er sogleich diktierte.“


Im Mittelpunkt steht der Versuch der Heilung einer Nervenkrankheit des alten Onkel Siegfried, aus der ihm eine fixe Idee zurückblieb, die ihn schließlich in den Wahnsinn getrieben hatte. Er war nämlich überzeugt, daß die Natur, erzürnt über den leichtfertigen Umgang mit ihr, den Menschen die Fähigkeit genommen habe, das Grün wahrzunehmen. In ewige schwarze Nacht sei nun der sanfte Schmuck des Frühlings versunken. Der Arzt trachtet danach, dem Kranken mit magnetischen Mitteln, angewendet in der freien Natur, zu helfen. Der ohnmächtige, dem Tod nahe Alte wird in eine eigens für die Kur ausgehobene Rasenbank gelegt und vorsichtig magnetisch bestrichen. Gleichzeitig singt die Tochter des Alten Calderons Verse aus Blume und Schärpe vom immer wiederkehrenden Grün der Erde. Dieses von einem jungen Arzt inszenierte Schauspiel, unterstützt durch die praktizierte Kunst der Tochter, weckt den Todkranken aus seiner geistigen Umnachtung.


Die Natur forciert den Heilungsprozeß, so daß die behutsame Therapie Wirkung zeigt: „‘Oh! Grün, Grün! Mein mütterliches Grün! Nein, ich allein war es, der trostlos vor dem Throne des Höchsten lag - nie hast du der Menschheit gezürnt! Nimm mich auf in deine Arme!’“ (VIII, 480). Seltsamerweise bleibt es jedoch nicht bei einem uneingeschränkten Vertrauen in die heilenden Kräfte der Natur. Sie ist in ihrer Unnahbarkeit ambivalent, bedrohlich mit ihren zerstörenden Kräften, denn der Arzt will den Genesungsschlaf verhindern, der Traumbilder provozieren könnte, auf die der Arzt keinen Einfluß mehr habe. So zeigen die Krisen des Alten auch den schmalen Grat zwischen Krankheit und Gesundheit, zwischen Leben und Tod, selbst dann noch, wenn Wissenschaft und Kunst in genialer Weise zusammenwirken. Das mahnt auch zur Vorsicht; denn selbst diese ideale Konstruktion erlaubt es nicht, die Geschichte harmonisch aufzulösen.
9


Zweierlei fällt auf: dem Doktor werden die Erkenntnisse über die Natur in den Mund gelegt und nicht dem Kranken selbst. Die Diagnose ist dann zweigeteilt. Seine indirekte Rede schildert die Sicht des Kranken. Aber in einer neuen Zeile fährt er mit der Diagnose fort, jetzt in direkter Rede: „Dahin ist das Grün, dahin die Hoffnung, dahin alle Seligkeit der Erde, denn verschmachtend, weinend verschwimmt das Blau, das alles mit liebenden Armen umschloß“ (VIII, 476). Des Kranken Sicht und des Arztes Blick gehen ineinander auf. Beide diagnostizieren die Krankheit einer Gesellschaft: den geschichtlich begründeten Verlust der ursprünglichen Harmonie von Mensch und Natur.
10

Nicht nur Genesung und Märchenschluß eines Landhausidylls am Ende der Erzählung sind trügerisch, sondern jetzt wird verständlich, warum der Arzt den Genesungsschlaf verhindern will. Der, der heilt, fürchtet die Korrektur der „Therapie“ durch die unbestechliche, von ihm nicht beeinflußbare Traumarbeit, die den Vorgang der Genesung als „frommen Betrug“ entlarven könnte. Dennoch birgt diese Erzählung neben der Kritik am mangelhaften Erkenntnisvermögen der Menschen ein zutiefst versöhnliches Element. Der Schein einer vollständigen Genesung bleibt um des Kranken willen gewahrt, denn der versteckte Sinn im Wahn wird nur für Momente sichtbar. Die Humanität des jungen Arztes, der den Heilvorgang in der Natur selbst „Tod und Auferstehung“ (VIII, 473) nannte, liegt darin, dem Kranken noch im Leben mit dem Tod vertraut, ihm den Tod als Teil des Lebens begreiflich gemacht zu haben. Es gehört einmal zum einzigartigen von Hoffmanns Erzählkunst, solche Ausgänge in der Schwebe zu halten; zum anderen beeindruckt, daß Hoffmann nicht - wie viele seiner Künstlerkollegen - in den Schoß der katholischen Kirche zurückgekehrt ist, sondern die Probleme innerweltlich zu lösen versuchte - ohne Transzendenz und Gottesfurcht.


Über den produktiven Dissens zur zeitgenössischen Wissenschaft hinaus (also mit den Mitteln der Kunst andere Möglichkeiten der Therapie vorzuführen) läßt sich an Hoffmanns Poetisierung der Psychologie zweierlei beobachten: eine zunehmende Skepsis, daß die Kunst wirklich kompensieren könne, was die Wissenschaft an Erkenntnisfähigkeit eingebüßt hat. Ihre Verkennung des Zusammenhangs von Mensch und Natur entlarvt er als fixe Idee, die auch noch selbstsicher im Gewand der Vernunft einher zu kommen pflegt. Zweitens suchte Hoffmann die Ursachen aufzudecken, die seiner Meinung nach die Gesellschaft aus dem Gleichgewicht brachten. 


In der Erzählung Doge und Dogaresse (1819) scheint sich mir wenigstens indirekt eine Lösung anzubieten. Sie spielt im Venedig des 14. Jhs. Vordergründig handelt es sich um eine anrührende Liebesgeschichte, die Hoffmann in das historische Geschehen der innerparteilichen Kämpfe der Dogen um die Herrschaft einbettet. Das Schicksal hat die Liebenden Antonio und Annunziata getrennt. Beide kennen sich aus ihrer Kindheit, haben sich dann aber aus den Augen verloren. Sie halten sich Jahre später in Venedig auf, ohne voneinander zu wissen. Antonio bewegt sich in der untersten Klasse des Volkes und arbeitet als Gondoliere, Annunziata wird mit dem mächtigen Dogen Marino Falieri vermählt. Beide haben ihre Identität verloren, sie wissen nichts von ihrer Herkunft, wer sie eigentlich sind. Hoffmann gesellt den Hauptfiguren noch eine bedeutende Figur hinzu, die kichernde und immer gestikulierende Margareta. An ihr faszinieren die therapeutischen und seherischen Fähigkeiten. Antonio klagt über den Verlust seiner Identität: 

„‘Die Wut der Krankheit hatte mir alle Erinnerung des Vergangenen gänzlich geraubt. Gleich als wäre in die todstarre Bildsäule plötzlich der Lebensfunken gefahren, gab es für mich nur augenblickliches Dasein, das sich an nichts knüpfte. Du kannst es dir denken, Alte! welchen Jammer, welche Trostlosigkeit dies Leben, nur ein im leeren Raum ohne Halt schwimmendes Bewußtsein zu nennen, über mich bringen mußte!“’ (IV, 450).


Behutsam und leise beginnt die Alte mit einem therapeutischen Gespräch: „‘Sage mir mein Kind! magst du dich denn gar nicht der früheren Zeit erinnern, wie es ging, wie es war mit dir, ehe du hier, ein armer elender Mensch, kaum dein Leben fristen konntest?’“ (IV, 447). Im Gegensatz zur zeitgenössischen Psychologie begann sie ihre Therapie mit vorsichtigem Wecken von Rückerinnerungen (die zeitgenössische Medizin vermeidet solch ein Vorgehen, weil ihre Vertreter glauben, dies würde erst die Krisen auslösen) und bietet sich als Medium der Identifikation an. Nichts anderes sagt der psychologisch feinsinnige Kommentar: „Die Alte hatte sich während seiner Erzählung gebärdet wie einer, der, ganz hingerissen von dem Leid des andern, alles selbst fühlt und jede Bewegung, die diesem der Schmerz abnötigt, wie ein Spiegel zurückgibt“ (IV, 451 f.). Die Alte fängt die Leiden Antonios auf und stellt sie grimassierend und hüpfend dar. Ihre äußerliche Karikatur ist Reflex der Seele Antonios. Über das Formlose und Schiefe soll zur Form erst gefunden werden. Ihre Karikatur ist Ausdruck des Mitleidens am Schmerz der Bewußtlosigkeit Antonios, um über das Zerrissene hinaus Ansatzpunkte für Verknüpfungen zu finden. Der Klage Antonios: „‘ ... das ist alles, was ich davon weiß, und das sind doch nur einzelne Bilder ohne Zusammenhang. Ach! dieses trostlose Alleinstehen in der Welt, das läßt mich zu keiner Fröhlichkeit kommen, so gut es mir nun auch gehen mag’“ (IV, 451), hört sie zu und beugt seine Schmerzen, indem sie ihn immer wieder ermuntert, nur fortzufahren, nicht nachzulassen in seiner Anstrengung, Verschüttetem nachzugraben. Sie bleibt an seiner Seite, fügt seinen Erinnerungsfetzen einige Stücke hinzu und gibt sich nach dem Erzählen ihres Schicksals als seine Amme Margareta zu erkennen. In das Mosaik seiner Erinnerung setzt sie Stein um Stein, bis er zu seiner Identität zurückgefunden hat.  Das ist der zweite Schritt zu seiner Heilung. Ein wunder Punkt seiner Vergangenheit bleibt noch verschwommen im Halbdunkel am Rand des Bewußtseins: seine Liebe zu einem Mädchen, das er als Kind kennengelernt und dann sogleich aus den Augen verloren hat. Ließ ihn die Therapie der Alten seine Selbstachtung wiederfinden, forciert sie jetzt den Heilungsprozeß, indem sie die Liebenden über zahlreiche Umwege zusammenführt. Am Krankenbett Annunziatas weckt Margareta alle Rückerinnerungen. Hilfe leisten der Traum Annunziatas und die Traumdeutung der Alten. Annunziatas Leiden über vergebliche Versuche des Entsinnens mündeten in die stille Trauer der Melancholie. Margareta diagnostiziert die Krankheit in einem solchen Bild:


„‘Aber da blickt sie mich an mit Augen - Tonino! - mit Augen, wie ich sie noch gar nicht gesehen, und kaum hab ich hineingeschaut (...) so bergen sie sich hinter die seidnen Wimpern wie hinter dunkles Gewölk. Und dann seufzt sie aus tiefster Brust und kehrt das holde blasse Antlitz der Wand zu und lispelt leise, ganz leise, aber so wehmütig, daß es mir gerade ins Herz sticht (...) Ich hole mir einen kleinen Stuhl (...) ich fange an, von dir zu erzählen’“ (IV, 447).


Margareta führt die getrennten Liebenden am Ende zusammen über die Erinnerungen, die sie in beiden weckt. Sie hebt zunächst den Identitätsverlust Antonios auf und verbannt die Melancholie Annunziatas. Diese Selbstfindung erst ist Voraussetzung für die Suche nach dem anderen. Ihre Mittel sind Gespräche, die goldene Brücke vom Unbewußten zum Bewußtsein ist der Traum. Auch er hat in dieser Erzählung therapeutische Wirkung, weil er Teile dem Bewußtsein zuführt, solange bis über die Deutung Margaretas Bewußtsein und Unbewußtes zur Deckung gebracht sind und sich im Ich wiederfinden, das gleichzeitig das Du mit einschließt: „Unter tausend Küssen, unter tausend Tränen schwuren sich die Liebenden ewige Treue, sie vergaßen die furchtbaren Ereignisse der schrecklichsten Tage, den Blick von der Erde abgewandt, schauten sie auf [in] den Himmel, den ihnen der Geist der Liebe erschlossen“ (IV, 483).


Die Funktion des Arztes und die Intention der Kunst scheinen hier in kongenialer Weise zusammengeführt zu sein. Der Arzt hat Identitäten hergestellt und Getrennte vereint. Der Künstler soll das auch leisten, der Kommentar des Erzählers am Eingang läßt daran keinen Zweifel:


„‘Es ist ein eignes Geheimnis, daß in dem Gemüt des Künstlers oft ein Bild aufgeht, dessen Gestalten, zuvor unkennbare körperlose, im leeren Luftraum treibende Nebel, eben in dem Gemüte des Künstlers erst sich zum Leben formen und ihre Heimat zu finden scheinen. Und plötzlich verknüpft sich das Bild mit der Vergangenheit oder wohl auch mit der Zukunft und stellt nur dar, was wirklich geschah oder geschehen wird’“ (IV, 431).


Beiden, dem Künstler und dem Arzt, ist nach Auffassung Hoffmanns eines gemeinsam: die Fähigkeit des Sehers, Ereignisse, die in der Zukunft liegen, wahrzunehmen. Der Künstler verbindet zunächst Gegenwärtiges mit Verganenem. Kolbes Gemälde - von ihm nimmt die Erzählung seinen Ausgang - aus dem Jahr 1816 greift eine Begebenheit aus dem Jahr 1354 auf. Er kann aber auch über eine als unbefriedigend empfundene Gegenwart hinaus Bilder aufstellen, in denen sein Ideal, als Wunsch in die Zukunft projiziert, vorweggenommen wird. Auch das thematisiert diese Erzählung, wie Naum Jakowlewitsch Berkowski in einer großartigen Interpretation bilanzierend fand: „Hoffmann sucht die Einheit des Lebens und aller Lebenskräfte, strebt nach lebendigem Tatendrang und nach Aktivität für alle handelnden Personen, fordert die tiefe Verbindung mit der Welt, in der sie leben“
11. Aber der Wunsch setzt ja immer einen Mangel voraus. Erneut verbietet sich - wie bei der Genesung - jede Harmonisierung, nichts geht auf, und alle Hauptfiguren kommen um.


Hoffmann läßt seinen auktorialen Erzähler die Entfremdung der Menschen schildern und die Ursachen dafür. Die Größe und Prachtentfaltung der Stadt, die sich die Menschen geschaffen haben, werden breit und eindrucksvoll dargestellt. Aber die gleichen Menschen ließen ihre seelische Entwicklung verkümmern. Deswegen verliert die Stadt im Lauf der Erzählung zusehends ihre Schönheit. Die wahren Kennzeichen eines vordergründig pulsierenden Lebens sind Eitelkeit und Prunksucht, Diebstahl und Betrügereien, Intrigen und Verrat, Folterungen und Hinrichtungen, ausgeheckte Pläne zur Kriegsführung und ängstlich getroffene Vorbereitungen, sich gegen drohende Angriffe zu wehren. Die drei Hauptfiguren, Antonio, Annunnziata und die Alte (Margareta) wollen schließlich mit einem kleinen Kahn über das Meer fliehen, um den Intrigen der Stadt zu entkommen. Sie werden vom Sturm überrascht und ertrinken. Diese Schlußbild mit dem schaukelnden Kahn im tobenden Meer ist eine Metapher, die weitere dunkle Stellen in der Erzählung erhellt.


In Doge und Dogaresse stellt Hoffmann in grandioser Weise den romantischen Mythos dar als kosmisches Element, als Aufruhr der Natur, die ihre zerstörerischen Kräfte entfaltet, um sich gegen die Menschen zu wenden. Der Erzähler kontrastiert von Anfang an den goldenen Glanz der Stadt mit einem rötlichen Widerschein, den die rebellierenden Naturgewalten dagegen aufblitzen lassen:


„Die Abendsonne warf ihre glühenden Strahlen über das Meer, über Venedig hin, so daß alles in lodernden Flammen stand; aber wie Antonio in Vergessenheit alles Kummers ganz entzückt hinschaute, wurde der Schein immer blutiger und blutiger. Ein dumpfes Sausen ging durch die Lüfte, und wie ein furchtbares Echo hallte es wider aus der Tiefe des Meeres. Der Sturm kam daher gefahren auf schwarzen Wolken und hüllte alles in dicke Finsternis ein, während aus dem brausenden Meere höher und höher die Wellen wie zischende schäumende Ungeheuer emporstiegen und alles zu verschlingen drohten (...). Statt des fröhlichen Jubels der Zinken und Trompeten hörte man durch den Sturm den Angstschrei der Bedrängten“ (IV, 439).


Hier werden Kräfte sichtbar, ein alles erfassender Prozeß, dessen fester, lebendiger Teil einmal der Mensch war. Im Vordergrund der Erzählung bleibt zwar die geschäftige Welt Venedigs, aber vom Licht des Kosmos erhellt, erscheint sie plötzlich armselig; alle ursprünglich reichen Anlagen des Menschen sind verkümmert, ihre Seelen verdorben, ihre Kräfte erschöpft. Im Hintergrund leuchtet der Mythos auf, die Einheit von Mensch und Natur in alter Zeit. In Umrissen wird die triadische Denkfigur sichtbar: Antonio und Annunziata hatten sich als Kinder in der Natur für kurze Zeit gefunden, sie werden dann voneinander getrennt und sehen sich auf Jahre hinaus nicht mehr. In der Mitte der Erzählung - beide sind erwachsen - begegnen sie sich wieder, aber sie sind sich und der Welt entfremdet. Doch in dem Augenblick, in dem sie sich wiedererkennen und sie sich erneut umarmen, ist es zu spät, die Natur läßt sie untergehen.


Hoffmanns Gedanken kehren immer wieder zu diesem Thema des großen Verlusts zurück und variieren es auf der Suche nach Möglichkeiten seiner Gestaltung. Hielt in Die Genesung die Natur gleichsam den Atem an - es war die lautlose Stille einer Verweigerung -, so ist in Doge und Dogaresse ihre Empörung geschildert.


Copyright by Friedhelm Auhuber, 1997



Anmerkungen

Hochgebietende Vernunft, mißtönend wie verstimmte Glocken
E.T.A. Hoffmann und die Psychologie seiner Zeit

1: Ludwig Börne : Die Serapionsbrüder. Von E.T.A. Hoffmann [1820]. 
In: Sämtliche Schriften. Neu bearbeitet und herausgegeben von Inge und Peter Rippmann. Düsseldorf: Melzer, 1964, Bd. 2, S. 562.

2: Julius Eduard Hitzig : E.T.A. Hoffmanns Leben und Nachlaß. Mit einem Nachwort von Wolfgang Held. Frankfurt am Main: Insel, 1986, S. 304 f. (Fußnote). [Wiederabgedruckt nach der Ausgabe: Julius Eduard Hitzig, Aus Hoffmann’s Leben und Nachlaß. Herausgegeben von dem Verfasser des Lebensabrisses Friedrich Ludwig Zacharias Werners, Teil 1: XIV S.; 336 S., Teil 2: 380 S., Berlin 1823].

ZURÜCK

 

3: Theodore Ziolkowski : Das Amt der Poeten. Die deutsche Romantik und ihre Institutionen. Stuttgart: Klett-Cotta, 1992, S. 173.

ZURÜCK

 

4: Die immer noch beste und zuverlässigste Darstellung zum Komplex Sozialgeschichte der Psychiatrie im europäischen Rahmen liefert Klaus Dörner: Bürger und Irre. Zur Sozialgeschichte und Wissenschaftssoziologie der Psychiatrie. Frankfurt am Main: Fischer, 1975 
[1. Aufl. Europäische Verlagsanstalt, 1969].


ZURÜCK

5: Johann Christian Reil : Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle 1803. (zit. Rh). Ders.: Ueber die Erkenntniß und Cur der Fieber. 4 Bde. Halle 1802-1807. Bd. IV: Nervenkrankheiten. 2. Aufl. Halle 1805 (zit. ECF).

ZURÜCK

6: Sigmund Freud : Das Unheimliche [1919]. In: Gesammelte Werke, Bd. XII, S. 227-268. London 1947. Freud, der ästhetische ‘Fälle’ wie Fälle aus der Realität als Beweismaterial seiner Theorien über das Unbewußte heranzog und viel Wert darauf legte, daß die Dichter und er in der Analyse im Ergebnis übereinstimmten, reduzierte die Vieldeutigkeit der Erzählung auf zwei Aspekte: auf die Angst Nathanaels vor dem Verlust seiner Augen als verschleierte Kastrationsangst und auf den Narzißmus als Folge der nichtbewältigten frühkindlichen Traumata. Freud stellt bewundernd fest, der Dichter habe die Bausteine der Erzählung in der Tat nicht so durcheinander gewirbelt, daß man ihre ursprüngliche Anordnung nicht wiederherstellen könnte.

ZURÜCK

7: Zitate aus Hoffmanns Werk folgen der Aufbau-Ausgabe: Ernst Theodor Amadeus Hoffmann: Gesammelte Werke in zwölf Einzelausgaben [nur 9 davon sind erschienen], bearbeitet und erläutert von H.-J. Kruse, R. Mingau und V. Liebrenz. Berlin und Weimar 1976 ff. Die Nachweise (Bandzahl und Seitenangabe) finden sich am Ende des Zitats.

ZURÜCK


8: Siehe Anmerkung 2, S. 441 f.
<
ZURÜCK

9: Darauf hat zuerst Claudio Magris: Die andere Vernunft. E.T.A. Hoffmann. Königstein/Ts.: Hain, 1980, S. 3, aufmerksam gemacht: „Die Szene der großen befreienden Begegnung mit dem Grün der Natur wird so zu einer Begegnung, die genauso illusorisch, unwirklich und trügerisch erscheint wie die vorangegangenen Halluzinationen. Die Ironie könnte sogar das erzählte Psychodrama der Genesung treffen und damit den heuchlerischen Anspruch der Wissenschaft, (...) dem Menschen ein Gut zurückzugeben, von dem er in Wirklichkeit endgültig und irreparabel getrennt worden ist. Indem er die Fähigkeit wiedererlangt, ein Grün zu sehen, das es für ihn möglicherweise nicht oder nicht mehr gibt, wird dem Alten eine geistige Klarheit durch die wissenschaftliche Therapie nicht wiedergegeben, sondern genommen (...) .“ Diese außerordentlich kühne Deutung entspricht gewiß nicht dem ersten Lektüre-Eindruck, fordert aber heraus, die Diagnose nochmals zu lesen.

ZURÜCK

10: So behält die tiefsinnige Deutung von Claudio Magris recht. Wenn erst die Krankheit eine Klarsicht ermöglicht, die der Gesunde nicht oder nicht mehr hat, weil fortschreitende Spezialisierung in der Wissenschaft dort Zusammenhänge verdeckt, wo es gerade um Erkenntnis ginge, dann ist die Verringerung des Abstandes von Idealem zu Realem nicht mehr möglich.


ZURÜCK

11: Naum Jakowlewitsch Berkowski : Die Romantik in Deutschland. Leipzig: Koehler & Amelang, 1979, S. 635.
ZURÜCK

ZUM ANFANG