|
Kapigel-Übersicht
Der
medizinische psychologische Kontext um 1800
Formen
der Rezeption in Hoffmanns Prosa
Der produktive
Dissens
Buch-Info (in Vorbereitung - 18.04.2003)
Friedhelm Auhuber
"Hochgebietende
Vernunft,
mißtönend wie verstimmte Glocken"
E.T.A. Hoffmann
und die Psychologie seiner Zeit
Der medizinische psychologische Kontext um
1800
„Den Wert eines poetischen Werkes habe ich
gewagt ihm abzusprechen, aber den eines wissenschaftlichen
gebe ich ihm willig. Es ist ein Lehrbuch mit
den schönsten Bildnissen geziert, es ist der
elegante Pinel, es ist die Epopee des Wahnsinns“. 1
So schloß 1820
Ludwig Börne seine alles in allem unfreundliche
Rezension der Serapionsbrüder, eine in dieser
Form allein dastehende Aussage über Hoffmanns
Werk. Zieht man eben jene Serapionsbrüder -
eine Sammlung von Erzählungen, die Hoffmann
einzeln in Almanachen veröffentlichte, dann
zusammenstellte, zu vier Bänden vereinigte und
eine Runde geselliger Mitglieder dazu erfand,
die sich Geschichten erzählten - zieht man diese
Erzählsammlung heran, behält Börne recht. Dort
kreisen die Gespräche zum guten Teil auch um
Magnetismus, Vampyrismus, Okkultismus, um Nervenkrankheiten,
fixe Ideen und Wahnsinn in all seinen damals
bekannten Erscheinungsformen. Hoffmanns spezifisch
künstlerische Verfahrensweise, seine Fähigkeit,
Probleme der Naturwissenschaft und Medizin in
seine Prosa zu integrieren, streitet Börne ab.
Was er ihm jedoch ausdrücklich zuzugestehen
scheint, sind ausgezeichnete Kenntnisse über
Psychiatrie und Psychologie. Diese Kenntnisse
bescheinigt ihm auch etwas unwillig Hoffmanns
Freund, erster Biograph und Kollege, der Jurist
Julius Eduard Hitzig, der ihm vorwarf, Hoffmann
würde sich bei Abfassung seiner juristischen
Gutachten in den Fällen, in denen es „auf die
Beurteilung zweifelhafter Gemütszustände ankam“,
in Erörterungen verlieren, „die nur in das Gebiet
der psychischen Arzneikunst und nicht in das
der Rechtswissenschaft gehörten.“ 2
In der Tat: Der vielseitige Künstler,
gewissenhafte Jurist und heute noch wegen seiner
Schauergeschichten und spannender Kriminalerzählungen
gern gelesene Dichter E.T.A. Hoffmann (1776-1822)
war seit seinem Aufenthalt in Bamberg (1808-1813)
bis in die letzten Tage seines Lebens in Berlin
mit Fragen der Medizin und Psychologie befaßt.
Seine fundierte Kenntnis bezog er vor allem
aus persönlichen Bekanntschaften mit namhaften
Ärzten wie Adalbert Friedrich Marcus (Direktor
des gesamten Medizinalwesens in Franken), Friedrich
Speyer, der in Jena bei Fichte und Schelling
studiert hatte, Christian Pfeufer, Stadtgerichtsarzt,
der nach Marcus Tod (1816) Leiter des Allgemeinen
Krankenhauses in Bamberg wurde, oder David Ferdinand
Koreff (Leibarzt des preußischen Staatskanzlers
Hardenberg) in Berlin. Mit diesen Ärzten pflegte
er geselligen Umgang, diskutierte über Fragen
der Medizin, und er besuchte auch die Irrenanstalt
St. Getreu in Bamberg, um die Kranken zu sehen.
Nachgewiesen ist ferner eine gründliche Lektüre
zahlreicher wissenschaftlicher Werke berühmter
Autoren wie Johann Christian Reil, Immanuel
Kant, Johann Daniel Metzger, Wilhelm Hufeland,
Karl Philipp Moritz, Ernst Horn, Carl Alexander
Ferdinand Kluge, Vincenzo Chiarugi, Christian
Ludwig Paalzow und Philippe Pinel, um nur die
wichtigsten zu nennen. Diese Namen und die Arbeiten
finden sich in seinen Briefen und Tagebüchern,
in seinen juristischen Gutachten und vor allem
in seinem Werk oft genug selbst. Kranke, Verrückte,
an fixen Ideen Leidende, Melancholiker und Hypochondristen
treten derart häufig in seinem Werk auf, daß
„man leicht einen ganzen Flügel der neuen Heilanstalt
hätte bevölkern können“ [gemeint ist St. Getreu
in Bamberg, F.A.].
3
Mit der Gestaltung dieser Krankheitsbilder
bewegte sich Hoffmann im medizinischen und literarischen
Kontext seiner Zeit. In der schöngeistigen Literatur
waren Melancholie und Wahnsinn zumeist als spezifische
Künstlerkrankheiten thematisiert, aber auch
als pathologische Fälle, so bei Novalis, Jean
Paul, Tieck, Arnim, Bonaventura, Brentano, Hölderlin
und Kleist. Ihnen allen war der medizinische
Kontext, wie er sich im Folgenden in etwa darstellt,
sehr gut vertraut.
4
Seit dem letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts
erscheinen in Deutschland in rascher Folge medizinische
Untersuchungen über den Wahnsinn, der besonders
in England, Frankreich und Italien heftig diskutiert
wurde. Bücher englischer, französischer und
italienischer Autoren, wie die von William Battie,
John Haslam, William Pargeter, Benjamin Rush,
Thomas Arnold, William Perfect, Philippe Pinel
und Vincenzo Chiarugi wurden oft noch im Erscheinungsjahr
ins Deutsche übertragen und fanden in den Fachkreisen
weite Verbreitung. Aber während die Ärzte Englands
und etwas später Pinel und Esquirol in Frankreich
Wert darauf legten, praktisch in der Irrenfürsorge
und in der Behandlung der Wahnsinnigen tätig
zu werden, entwarf man in Deutschland Modelle
und erschloß sich theoretisch weite Räume, die
praktisch aber nie abgeschritten wurden. Mit
Hilfe der Naturphilosophie Schellings sollte
dessen gedankliches Modell der Einheit des Alls,
der Identität von Geist und Natur, der Verbindung
des Makrokosmos (Natur) mit dem Mikrokosmos
(Mensch) auf die Medizin und Therapie übertragen
und die Einheit, die durch Krankheit verlorengegangen
ist, wieder hergestellt werden. Allen Ärzten,
besonders den deutschen, ist bei zahlreichen
kleinen Unterschieden in der Auffassung über
Klassifizierung von Geisteskrankheiten, über
Diagnose und Therapie dreierlei gemeinsam:
1.
Die Abwendung von der Humoralpathologie, deren
vorzügliche Heilmethode das Abzapfen von Blut
war, um psychische Leiden zu lindern (ihre Tradition
reicht von der Antike bis ins 18. Jahrhundert).
Reil (1759-1813), neben Hufeland der berühmteste
deutsche Arzt um die Wende zum 19. Jahrhundert,
kritisiert diese Therapie: „Dazu kömmt noch
die meistens falsche Behandlung des Wahnsinns
durch Aderlässe, Purganzen und Brechmittel,
die die Naturkräfte vollends zerstört, durch
welche eine heilsame Crise hätte zu Stande kommen
können“ (Rh, 430) 5.
Sie wird abgelöst von
der Vorstellung, nicht das Ungleichgewicht der
Säfte sei schuld am durcheinandergeratenen Seelenhaushalt,
sondern Nervenleiden. Entzündete und verknotete
Nerven (Ganglien), unterbrochene Leitungen,
sind es, die nach der Auffassung der Medizin
an der Wende zum 19. Jahrhundert Melancholie,
partiellen Wahnsinn, fixe Ideen usw. provozieren.
Und wenn jetzt „Form und Mischung des Gehirns
und der Nerven“ (ECF, 123) nicht mehr stimmen,
müssen sie in Einklang gebracht werden mit Erregung
oder Beruhigung der Nerven. Wurden in der Humoralpathologie
Störungen des Seelenlebens als somatische Krankheiten
behandelt, so mußte man jetzt zu psychischen
Mitteln greifen, um Seelenstörungen zu beheben.
Folgerichtig fand die psychische Behandlungsmethode
bereits Eingang in die Titel der meisten Arbeiten.
Die psychischen Kuren, deren berühmtester theoretischer
Verfechter Johann Christian Reil war, beschränken
sich eben auf die Ruhigstellung der Nerven.
In extremen Fällen waren es Zwangsmittel, in
leichteren zählten Schlaf, lange Spaziergänge,
frische Luft, ernsthafte Beschäftigung, auch
sorgfältig ausgewählte Lektüre, Theaterbesuche
usf. zu den bevorzugten Empfehlungen.
2.
Die deutschen Mediziner hatten größte Schwierigkeiten,
zu Theoriebildungen zu kommen; die Einflüsse
reichen vom Brownianismus und der Erregungstheorie
über den Magnetismus bis zur Naturphilosophie,
die der Spezialisierung der Ärzte entgegentrat
und den Menschen als integrierten Teil der Natur
umfassend in eine Therapie einbezogen sehen
wollte. Um es kurz zu sagen: eine Theoriebildung
gelang nicht, mit der Folge, daß die Mediziner
sich untereinander Fallgeschichten erzählten
und voneinander abschrieben, ohne aber zu versäumen,
ihre Eigenständigkeit trotzdem zu betonen. Das
gilt auch dann, wenn die Grenzen ihrer nosologischen
Systeme verschwimmen, oder die Kriterien der
Kritik der Ärzte untereinander überhaupt nicht
überzeugen können: Reil kritisiert Thomas Arnolds
Einteilung des Wahnsinns und Philippe Pinels
Therapievorschläge, scheut sich aber nicht,
von beiden seitenlang abzuschreiben.
3.
Die Mediziner, orientiert am Ganzheitsdenken
der Naturphilosophie, kamen immer dann in Zwiespalt
mit der Durchführung therapeutischer Maßnahmen,
wenn sie gleichzeitig den praktischen Anforderungen
der Gesellschaft gerecht werden wollten. Die
Mediziner waren Delegierte des Staates und handelten
in seinem Auftrag. Obenan standen immer Nützlichkeit
und Verwertbarkeit der Bürger. So abstrakt das
theoretisch noch klingt, so konkret sah die
Durchführung aus. Der Wahnsinn wurde aus der
Gesellschaft ausgegliedert, Irrenanstalten entstanden.
Oberstes Ziel der Ärzte, dem alle anderen untergeordnet
waren, blieb, den Wahnsinnigen zur Vernunft
zurückzuführen, um ihn als funktionierendes
Mitglied wieder in die Gesellschaft einreihen
zu können. Vernunft und Wahnsinn stehen sich
bei der Behandlung starr gegenüber; der Kranke
wird ausschließlich in ihrem Sinne behandelt.
Die Heilerfolge blieben trotz aller gegenteiligen
optimistischen Beteuerungen gering. Die Mediziner
vertreten rigide Auffassungen von Normalität
und Anormalität, von Krankheit und Gesundheit,
die es ihnen erlauben, eine Linie zu ziehen
zwischen ‘krank’ und ‘gesund’. Obwohl sich Reil,
und nicht nur er, der Problematik einer Grenzziehung
durchaus bewußt ist, hält er daran fest: die
Fackel der Vernunft „erstickt die Geburten der
Nacht“ (Rh, 343). Die Therapie besteht nun darin,
(hat man einmal die Krankheiten klassifiziert
und diagnostiziert), den geistig Erkrankten
zur Einsicht zu bewegen, den Pfad der Vernunft
zu beschreiten, um wieder in die Gesellschaft
zurückfinden zu können. Gelingen ihre Verfahren
nicht, werden die Kranken weiter von der Gesellschaft
ferngehalten. Dies geschieht nun keineswegs
mitleidlos, im Gegenteil: Die Ärzte dringen
entschieden darauf, die verheerenden Verhältnisse
in den Irrenanstalten zu verbessern.- Aus der
Sicht von heute scheinen diese Ausführungen
müßig, ja eine Binsenweisheit zu sein, weil
sich an der psychiatrischen Praxis seither nicht
viel geändert hat. Historisch gesehen, und darum
geht es hier, war die Ausgrenzung der Unvernunft
seit dem 18. Jahrhundert neu, lebten doch bis
dahin die „armen Irren“ stigmatisiert durch
eigene Schuld und Sünde in der Gesellschaft.
Es ist die Generation der Romantiker, früher
oft belächelt wegen ihrer Rückzugsgefechte ins
mystifizierte Mittelalter, die gegen die scharfe
Grenzziehung Sturm läuft und die strikte Trennung
zwischen ‘gesund’ und ‘krank’ nicht anerkennen
will. Darin steckt auch die Brisanz romantischer
Poesie, deren gesellschaftskritischer Impetus
mehr und mehr erkannt wird. Sie verwerfen nun
den Vernunftbegriff keineswegs pauschal; sie
kritisieren aber seinen Gebrauch dort, wo das
theoretische Ideal in unmenschliche Praxis umzuschlagen
droht; wird der hohe Begriff absolut gesetzt,
geschehen im Namen der Menschlichkeit Ungerechtigkeiten,
wie eben die Behandlung der Irren in den Anstalten
zeigt. Romantik ist (auch) entschiedene Kritik
an einer Aufklärung, die in der Folge nicht
mehr wahrzunehmen bereit ist, daß intendierte
Menschlichkeit sich ins Gegenteil zu kehren
droht, wenn ihre Prämissen nicht mehr überprüft
werden und man fraglos in Kauf nimmt, was bereits
fragwürdig geworden ist. In romantischer Prosa
stellt sich diese Kritik so dar, daß Behandlungsmethoden
und Ausgrenzungspraxis unverhohlen kritisiert
werden. Darüber hinaus integrieren die Dichter
in ihre Prosa Fallgeschichten mit negativen
Ausgängen, bei denen Mediziner dennoch optimistisch
von Heilerfolgen ausgehen. So geraten die medizinischen
Schriften oft zur Negativfolie der Kunst.
Formen
der Rezeption in Hoffmanns Prosa
Wie
stellt sich nun in Hoffmanns Werk die Rezeption
der Psychologie im einzelnen dar?
In seinem bekanntesten (und sehr oft schon interpretierten)
Märchen Der goldne Topf (1814) ist das Schicksal
des an Melancholie leidenden Anselmus als Krankheitsverlauf
nach medizinischen Quellen geschildert (vor
allem jene von Chiarugi und Reil). Hoffmann
läßt seinen Erzähler die Melancholie in ihrer
doppelten Gestalt schildern: als nobilitierende
Künstlerkrankheit, die aber gleichzeitig Anselmus
gefährdet und in den Wahnsinn treibt. Das Pathologische
wird in der Erzählung ebenso sichtbar gemacht:
Anselmus wird am Ende wahnsinnig, geht aus dem
irdischen Leben unter großen Schmerzen, verschwindet
sogar aus der Erzählwelt des Märchens, um künftig
ein armseliges Dasein auf einem imaginären Rittergut
in Atlantis zu fristen.
In der berühmten Erzählung Der Sandmann (1815),
die auch den Psychoanalytiker Sigmund Freud
100
Jahre später sehr beeindrucken wird,
6
gestaltet
Hoffmann die Geschichte
eines partiell Wahnsinnigen, dessen Krankheitsverlauf
mit Kindheitstraumata beginnt, zu einem gespaltenen
Bewußtsein des bereits erwachsenen Nathanael
führt - er leidet an zwei fixen Ideen: Coppelius
ist der Zerstörer seiner Liebe und der Vernichter
seines Lebens, und die Puppe Olimpia betrachtet
er schließlich uneingeschränkt als Lebewesen
-, um mit einer grausigen Todesszene zu enden
(Nathanael stürzt sich in vollkommener geistiger
Umnachtung von einem Turm).
Die Erzählskizze Der Einsiedler Serapion (1818)
veranschaulicht, wie Cyprian, der Erzähler jener
Geschichte, sich einst auf den Weg gemacht hatte,
um einen Mann - es ist der Graf P., ein Jurist
und Diplomat - von der fixen Idee zu befreien,
er sei der Märtyrer Serapion, der unter Kaiser
Decius 250 n. Chr. hingerichtet worden war;
Bamberg, so ist er sich sicher, sei Alexandria
und sein Gärtlein im Wald eine Oase inmitten
der Thebaischen Wüste. Ausgestattet mit medizinischen
Kenntnissen, gewonnen aus der Fachliteratur,
strebt Cyprian danach, Serapions fixe Idee zu
tilgen, um den Mann zur Vernunft zurückzuführen.
Doch seine Kur scheitert kläglich. Serapion
wird nicht im Sinne der Vernunft geheilt. Während
Cyprian seine therapeutischen Bemühungen einstellt,
vollzieht sich bei ihm gleichzeitig eine Wandlung.
Er akzeptiert fortan die andere Realität Serapions,
erkennt ihre immanente Logik und hebt auf Grund
dieser Erkenntnis die Distanz zwischen Gesundheit
und Krankheit auf. Er unterhält sich mit Serapion
auf dessen Wirklichkeitsebene und lernt staunend
die Möglichkeit zweier gleichberechtigter Daseinsformen
kennen.
Diese Erzählskizze führt zum übergeordneten
Gedanken von Hoffmanns Kritik an der Medizin
und Anthropologie seiner Zeit. Sie galt immer
dem Gesundheitsbegriff der Aufklärung aus dem
18. Jahrhundert, die ihr Ideal aus den normativen
Kriterien der Vernunft entwickelt hatte, um
mit ihrer Hilfe psychisch Kranke (Melancholiker,
Wahnsinnige, an fixen Ideen Leidende) zu kurieren.
Diesen zentralen Aspekt des Verhältnisses von
Wahnsinn und Vernunft hat Hoffmann seit Beginn
seiner literarischen Karriere (1807/08 schreibt
er die erste erhaltene Erzählung Ritter Gluck)
immer wieder problematisiert. Im Juni 1822 diktiert
er, an den Händen bereits gelähmt, die großartige
Erzählung Die Genesung, in der ein partiell
Wahnsinniger die fixe Idee hat (die vielleicht
gar nicht so verrückt ist), die Natur habe dem
Menschen wegen seines leichtfertigen Umgangs
mit ihr zur Strafe die Fähigkeit genommen, das
Grün wahrzunehmen.
Schon an Hoffmanns erster erhaltener Erzählung
lassen sich die verschwimmenden Grenzen von
Krankheit und Gesundheit beobachten. Entstehungsgeschichte
und Modus der Darstellung beweisen Hoffmanns
Faszination am Sujet: Der Erzähler sucht und
pflegt den
Umgang mit einem gesellschaftlichen Außenseiter,
der glaubt, der bereits 1787 verstorbene Komponist
Christoph Willibald Gluck zu sein. Hoffmanns
Darstellungskunst hält bis zuletzt die Identitätsfrage
offen, während sein Erzähler dauernd nach Aufklärung
strebt. Er sucht ihn in den Straßen Berlins;
entdeckt er ihn, will er die Gelegenheit nutzen,
den sonderbaren Mann zu sich in die Wohnung
einzuladen. Doch der lehnt ab, bittet statt
dessen den Erzähler zu sich. Auf das Läuten
wird geöffnet, doch die Torwächter bleiben unsichtbar.
Der Sonderling geht im oberen Stockwerk zu seinen
Räumen und verschließt sie nach dem Eintreten
sorgfältig. Beklommen vom „düsteren Ansehn verjährter
Pracht“ (I, 26)
7
und
äußerst irritiert vom merkwürdigen Klavierspiel,
verlangt der Erzähler nach Aufklärung:
„Er stand auf und maß mich mit ernstem, durchdringendem
Blick; doch als ich weiter fragen wollte, war
er mit dem Lichte durch die Türe entwichen und
hatte mich im Finstern gelassen. Es hatte beinahe
eine Viertel-Stunde gedauert; ich verzweifelte,
Ihn wieder zu sehen, und suchte, durch den Stand
des Klaviers orientiert, die Türe zu öffnen,
als er plötzlich in einem gestickten Galakleide,
reicher Weste, den Degen an der Seite, mit dem
Lichte in der Hand hereintrat. Ich erstarrte;
feierlich kam er auf mich zu, faßte mich sanft
bei der Hand und sagte, sonderbar lächelnd:
»Ich bin der Ritter Gluck!«“(I, 28; H.i.O.).
Dieser Schlußsatz ist frappierend. Mit dem kursiv
gesetzten: Ich bin der Ritter Gluck! definiert
ein Verrückter seine Identität, aber die Pointe
liegt bereits außerhalb der Erzählung. Diese
fehlenden Worte jenseits des Textes lassen den
Leser - wie Ritter Gluck - im wahrsten Sinne
des fehlenden Wortes allein. Innerhalb des Textes
wird eine Identität in dreifacher Weise in Frage
gestellt: bei jenem, der sich für Ritter Gluck
hält; beim Autor, der den Schlußsatz niederschreibt,
und beim Leser, der während der Lektüre erfahren
muß, daß er selbst Ritter Gluck sein könnte.
Das Paradoxon: der Text entzieht sich mit dem
Schlußsatz dem Leser, um ihn desto tiefer in
ihn zu verstricken. Ein Vexierspiel im Zwielicht
der Aufklärung zwischen Wahnsinn und Vernunft.
Aus dem vermeintlichen Schatten des Wahnsinns
heraus wird ein Licht von Ritter Gluck in den
Raum der Vernunft getragen. Dort halten sich
Erzähler und Leser auf - beide gleichermaßen
geblendet.
Hoffmann stellt die Therapien der Medizin, und
den Umgang der Mediziner mit den Wahnsinnigen,
sämtlich in Frage, verwirft die Konzepte der
Ärzte Reil, Hoffbauer, Chiarugi u.a. In seinen
Erzählungen finden sich zahlreiche Fälle mit
negativen Ausgängen an den Stellen, wo die Mediziner
noch Heilerfolge erwarten oder erhoffen (Eine
Spukgeschichte, Der goldne Topf, Der Sandmann,
Das öde Haus, Der Einsiedler Serapion, um nur
die wichtigsten zu nennen). Diese „Fallbeschreibungen“
mit negativen Ausgängen sind gleichzeitig der
erste Schritt von Hoffmanns produktiver Rezeption
der zeitgenössischen Medizin und Psychologie.
Damit einher geht etwas ganz anderes. Noch faszinierender
waren für ihn zweifellos die Fragen des Umgangs
der Bürger mit den Künstlern, Außenseitern und
Verrückten. (Diese Faszination wird bereits
am Ritter Gluck deutlich.) Während die Medizin
und Psychiatrie die Kranken und Wahnsinnigen
schlicht ausgrenzt und in schweren Fällen interniert,
finden sie sich in Hoffmanns Prosa in der Gesellschaft
wieder (Nathanael im Sandmann, Ritter Gluck,
der in den Straßen Berlins sein Wesen treibt,
oder der alte Onkel Siegfried in Die Genesung).Die
Bürgerfiguren sind so zum Umgang veranlaßt und
zur Reaktion gezwungen, ob sie nun Veronika
und Heerbrand im Goldnen Topf, Klara und Siegmund
im Sandmann oder Theodor im Öden Haus heißen.
Hierin liegt auch die Brisanz dieser Texte.
Die unmittelbare Nähe von Kranken und Gesunden
läßt Vexierbilder zwischen Vernunft und Wahnsinn
entstehen, so daß über die immer gesehenen zwei
Wirklichkeiten (Philister/Künstler) hinaus viele
Wirklichkeiten entstehen. Gewiß galten Hoffmanns
Interesse und seine Sympathie vorrangig den
Künstlern, die Bürger fielen jedoch selten gänzlich
schroffen Urteilen zum Opfer. Unter dem wechselseitigen
Bezug von Krankheit und Gesundheit verlagern
sich die Gewichte. Hoffmanns Aufmerksamkeit
ist nicht entgangen, daß die Reaktionen der
Bürger dem Künstler und gesellschaftlichen Außenseiter
gegenüber oft ängstliche Abwehr ist, um andere,
ihnen befremdliche Seelennöte, die sie aber
als Teil ihrer selbst ahnen, von sich fernzuhalten.
Diese Schwächen (bei Künstlern und Bürgern)
faszinierten Hoffmann, deshalb hielt er sich
nicht lange mit der Konstruktion von Gegensätzen
auf.
Der
produktive Dissens
Doch zurück zur Medizin; mit den Mitteln der
Kunst zeigte Hoffmann ihr Scheitern auf ihrem
eigenen Gebiet. Gleichzeitig erkannte er aber,
daß Poesie und Musik über die Medizin hinausgelangen
könnten. Geeignete Formen hat Hoffmann gesucht
und gefunden.
So wird in den Rahmengesprächen der Serapionsbrüder
über Kunst, kulturelles Leben, Politik und eben
auch über Fragen der Medizin diskutiert. Noch
wichtiger: Es werden geradezu Therapieformen
durch das gesellige Gespräch erprobt.
In Das Sanctus (1816) wird vorgeführt, wie ein
professioneller Arzt versagt, während zwei Künstler
- der reisende Enthusiast als Erzähler und ein
Komponist - durch funktionales Zusammenspiel
den psychischen Defekt der Sängerin Bettina
beheben. Indem Hoffmann die Medizin poetisiert
und die Kunst zur Heilkunst befähigt sieht,
korrigiert er die zeitgenössischen Vorstellungen
von Gesundheit und Krankheit.
Die Ausgangssituation ist in der Erzählung Des
Vetters Eckfenster (1822) so gestaltet, daß
ein junger Gesunder seinen alten kranken Vetter
besucht und bei ihm Trostlosigkeit und „schwärzeste
Melancholie“ (VIII, 442) feststellen muß. Doch
die Szenerie wechselt die Farben, als der Kranke
zu erzählen beginnt. Die Faszination geht von
der Wahrnehmung des bunten Lebens aus, von der
Vielfalt des Lebendigen auf dem Marktplatz,
den er vom Fenster aus beobachtet. Eine Gestalt
scheint ihn dort besonders zu fesseln - die
des Blinden, dessen Schicksal er emotional mit
seinem eigenen verbindet: „Es gibt für mich
keinen rührendern Anblick, als wenn ich einen
solchen Blinden sehe, der mit emporgerichtetem
Haupt in die weite Ferne zu schauen scheint.
Untergegangen ist für den Armen die Abendröte
des Lebens, aber sein inneres Auge strebt schon
das ewige Licht zu erblicken, das ihm in dem
Jenseits voll Trost, Hoffnung und Seligkeit
leuchtet“ (VIII, 462). Diese Diagnose kommt
einer Selbstdiagnose gleich. Neben der Resignation
ahnen beide eine bessere Zeit und verlassen
so die eingegrenzten Gebiete irdischer Beschränkung:
Der Lebensschicksale formulierende Gelähmte
qua künstlerischer Fähigkeit, der Blinde mit
einem inneren Auge, das die Nacht, die ihn umfaßt,
durchdringt. Das bestätigt die Wiederkehr des
Horazverses am Ende der Erzählung „Et si male
nunc, non olim sic erit!“ (VIII, 471) eindrucksvoll.
Das Jetzt (nunc), das Einst (olim) und das in
die Zukunft weisende erit nimmt das hellere
Dasein noch zu Lebzeiten vorweg wie die vom
alten Vetter interpretierte Schau des Blinden
auch. Diese Sensibilität des Kranken dem Blinden
gegenüber führt von der angestrebten, wenn auch
nicht erreichten Selbsttherapie, zur Linderung.
Die Linderung ging von der Kraft des Erzählens
aus und von den reichen Einsichten über die
Wechselwirkungen von Krankheit, Kunst und Leben.
An der Figur des alten Vetter zeigt Hoffmann,
daß Bewußtsein und Reflexion notwendig sind,
um auf die künftige irdische Feier einer besseren
Zeit wenigstens hinweisen zu können. So finden
sich in der Erzählung, aller Trauer unerachtet,
Mittel und Wege zur Therapie der Gesellschaft,
gleichsam als poetisches Vermächtnis demonstriert.
Ihr wird empfohlen, produktive Unruhe als wünschenswert
gelten zu lassen, Lebendigkeit gegen erstarrte
Formen zu setzen, das Abgelebte, oft verborgen
in alten Institutionen, zu erkennen und zu erneuern,
um drohenden Stillstand aufheben und Lähmungser-
scheinigungen in gesellschaftlichen Leben überwinden
zu können: Der Markt hat sich geleert, die Verkäuferinnen
packen zusammen und beladen ihre Wagen: „...
geschäftiger zeigte sich die Polizei, alles
und vorzüglich die Wagenreihe in gehöriger Ordnung
zu erhalten; diese Ordnung wäre auch nicht gestört,
wenn es nicht hin und wieder einem schismatischen
Bauerjungen eingefallen wäre, quer über den
Platz seine eigne neue Beringsstraße zu entdecken,
zu verfolgen und seinen kühnen Lauf mitten durch
die Obstbuden, geradezu nach der Türe der deutschen
Kirche, zu richten. Das gab denn viel Geschrei
und viel Ungemach des zu genialen Wagenlenkers“(VIII,
470). Die Szene mit der Entdeckung der Beringstraße
nach dem gesellschaftlichen Treiben am Ende
des Markttages ist eine Metapher und verweist
auf die Abenteuer des Lebens, die es immer wieder
von neuem zu bestehen gilt.
Zwei Monate nach Des Vetters Eckfenster diktiert
Hoffmann eine, oberflächlich gesehen, einfache,
in Wahrheit vielleicht seine hintergründigste
Erzählung: Die Genesung.
Anfang oder Mitte Juni 1822 unternimmt der bereits
an Händen und Füßen gelähmte Hoffmann eine letzte
Ausfahrt (4 Leute müssen ihn in den Wagen tragen)
und ist, wie Hitzig berichtet, vom Anblick des
Grüns erschüttert: „‘Gott es soll Sommer sein’,
jammerte er,
‘und ich habe noch keinen grünen Baum
gesehen.’ Und als er zum ersten Mal hinaus kam
ins Freie, entstürzten ihm die hellen Tränen
und er wurde ohnmächtig vor der Gewalt des Eindrucks.
Nach seiner Heimkehr faßte er den Plan zu der
kleinen (...) Erzählung: Die Genesung, die er
sogleich diktierte.“
Im Mittelpunkt steht der Versuch der Heilung
einer Nervenkrankheit des alten Onkel Siegfried,
aus der ihm eine fixe Idee zurückblieb, die
ihn schließlich in den Wahnsinn getrieben hatte.
Er war nämlich überzeugt, daß die Natur, erzürnt
über den leichtfertigen Umgang mit ihr, den
Menschen die Fähigkeit genommen habe, das Grün
wahrzunehmen. In ewige schwarze Nacht sei nun
der sanfte Schmuck des Frühlings versunken.
Der Arzt trachtet danach, dem Kranken mit magnetischen
Mitteln, angewendet in der freien Natur, zu
helfen. Der ohnmächtige, dem Tod nahe Alte wird
in eine eigens für die Kur ausgehobene Rasenbank
gelegt und vorsichtig magnetisch bestrichen.
Gleichzeitig singt die Tochter des Alten Calderons
Verse aus Blume und Schärpe vom immer wiederkehrenden
Grün der Erde. Dieses von einem jungen Arzt
inszenierte Schauspiel, unterstützt durch die
praktizierte Kunst der Tochter, weckt den Todkranken
aus seiner geistigen Umnachtung.
Die Natur forciert den Heilungsprozeß, so daß
die behutsame Therapie Wirkung zeigt: „‘Oh!
Grün, Grün! Mein mütterliches Grün! Nein, ich
allein war es, der trostlos vor dem Throne des
Höchsten lag - nie hast du der Menschheit gezürnt!
Nimm mich auf in deine Arme!’“ (VIII, 480).
Seltsamerweise bleibt es jedoch nicht bei einem
uneingeschränkten Vertrauen in die heilenden
Kräfte der Natur. Sie ist in ihrer Unnahbarkeit
ambivalent, bedrohlich mit ihren zerstörenden
Kräften, denn der Arzt will den Genesungsschlaf
verhindern, der Traumbilder provozieren könnte,
auf die der Arzt keinen Einfluß mehr habe. So
zeigen die Krisen des Alten auch den schmalen
Grat zwischen Krankheit und Gesundheit, zwischen
Leben und Tod, selbst dann noch, wenn Wissenschaft
und Kunst in genialer Weise zusammenwirken.
Das mahnt auch zur Vorsicht; denn selbst diese
ideale Konstruktion erlaubt es nicht, die Geschichte
harmonisch aufzulösen.
9
Zweierlei fällt auf: dem Doktor werden
die Erkenntnisse über die Natur in den Mund
gelegt und nicht dem Kranken selbst. Die Diagnose
ist dann zweigeteilt. Seine indirekte Rede schildert
die Sicht des Kranken. Aber in einer neuen Zeile
fährt er mit der Diagnose fort, jetzt in direkter
Rede: „Dahin ist das Grün, dahin die Hoffnung,
dahin alle Seligkeit der Erde, denn verschmachtend,
weinend verschwimmt das Blau, das alles mit
liebenden Armen umschloß“ (VIII, 476). Des Kranken
Sicht und des Arztes Blick gehen ineinander
auf. Beide diagnostizieren die Krankheit einer
Gesellschaft: den geschichtlich begründeten
Verlust der ursprünglichen Harmonie von Mensch
und Natur. 10
Nicht nur Genesung und Märchenschluß
eines Landhausidylls am Ende der Erzählung sind
trügerisch, sondern jetzt wird verständlich,
warum der Arzt den Genesungsschlaf verhindern
will. Der, der heilt, fürchtet die Korrektur
der „Therapie“ durch die unbestechliche, von
ihm nicht beeinflußbare Traumarbeit, die den
Vorgang der Genesung als „frommen Betrug“ entlarven
könnte. Dennoch birgt diese Erzählung neben
der Kritik am mangelhaften Erkenntnisvermögen
der Menschen ein zutiefst versöhnliches Element.
Der Schein einer vollständigen Genesung bleibt
um des Kranken willen gewahrt, denn der versteckte
Sinn im Wahn wird nur für Momente sichtbar.
Die Humanität des jungen Arztes, der den Heilvorgang
in der Natur selbst „Tod und Auferstehung“ (VIII,
473) nannte, liegt darin, dem Kranken noch im
Leben mit dem Tod vertraut, ihm den Tod als
Teil des Lebens begreiflich gemacht zu haben.
Es gehört einmal zum einzigartigen von Hoffmanns
Erzählkunst, solche Ausgänge in der Schwebe
zu halten; zum anderen beeindruckt, daß Hoffmann
nicht - wie viele seiner Künstlerkollegen -
in den Schoß der katholischen Kirche zurückgekehrt
ist, sondern die Probleme innerweltlich zu lösen
versuchte - ohne Transzendenz und Gottesfurcht.
Über den produktiven Dissens zur zeitgenössischen
Wissenschaft hinaus (also mit den Mitteln der
Kunst andere Möglichkeiten der Therapie vorzuführen)
läßt sich an Hoffmanns Poetisierung der Psychologie
zweierlei beobachten: eine zunehmende Skepsis,
daß die Kunst wirklich kompensieren könne, was
die Wissenschaft an Erkenntnisfähigkeit eingebüßt
hat. Ihre Verkennung des Zusammenhangs von Mensch
und Natur entlarvt er als fixe Idee, die auch
noch selbstsicher im Gewand der Vernunft einher
zu kommen pflegt. Zweitens suchte Hoffmann die
Ursachen aufzudecken, die seiner Meinung nach
die Gesellschaft aus dem Gleichgewicht brachten.
In der Erzählung Doge und Dogaresse (1819) scheint
sich mir wenigstens indirekt eine Lösung anzubieten.
Sie spielt im Venedig des 14. Jhs. Vordergründig
handelt es sich um eine anrührende Liebesgeschichte,
die Hoffmann in das historische Geschehen der
innerparteilichen Kämpfe der Dogen um die Herrschaft
einbettet. Das Schicksal hat die Liebenden Antonio
und Annunziata getrennt. Beide kennen sich aus
ihrer Kindheit, haben sich dann aber aus den
Augen verloren. Sie halten sich Jahre später
in Venedig auf, ohne voneinander zu wissen.
Antonio bewegt sich in der untersten Klasse
des Volkes und arbeitet als Gondoliere, Annunziata
wird mit dem mächtigen Dogen Marino Falieri
vermählt. Beide haben ihre Identität verloren,
sie wissen nichts von ihrer Herkunft, wer sie
eigentlich sind. Hoffmann gesellt den Hauptfiguren
noch eine bedeutende Figur hinzu, die kichernde
und immer gestikulierende Margareta. An ihr
faszinieren die therapeutischen und seherischen
Fähigkeiten. Antonio klagt über den Verlust
seiner Identität:
„‘Die Wut der Krankheit hatte mir alle Erinnerung
des Vergangenen gänzlich geraubt. Gleich als
wäre in die todstarre Bildsäule plötzlich der
Lebensfunken gefahren, gab es für mich nur augenblickliches
Dasein, das sich an nichts knüpfte. Du kannst
es dir denken, Alte! welchen Jammer, welche
Trostlosigkeit dies Leben, nur ein im leeren
Raum ohne Halt schwimmendes Bewußtsein zu nennen,
über mich bringen mußte!“’ (IV, 450).
Behutsam und leise beginnt die Alte mit einem
therapeutischen Gespräch: „‘Sage mir mein Kind!
magst du dich denn gar nicht der früheren Zeit
erinnern, wie es ging, wie es war mit dir, ehe
du hier, ein armer elender Mensch, kaum dein
Leben fristen konntest?’“ (IV, 447). Im Gegensatz
zur zeitgenössischen Psychologie begann sie
ihre Therapie mit vorsichtigem Wecken von Rückerinnerungen
(die zeitgenössische Medizin vermeidet solch
ein Vorgehen, weil ihre Vertreter glauben, dies
würde erst die Krisen auslösen) und bietet sich
als Medium der Identifikation an. Nichts anderes
sagt der psychologisch feinsinnige Kommentar:
„Die Alte hatte sich während seiner Erzählung
gebärdet wie einer, der, ganz hingerissen von
dem Leid des andern, alles selbst fühlt und
jede Bewegung, die diesem der Schmerz abnötigt,
wie ein Spiegel zurückgibt“ (IV, 451 f.). Die
Alte fängt die Leiden Antonios auf und stellt
sie grimassierend und hüpfend dar. Ihre äußerliche
Karikatur ist Reflex der Seele Antonios. Über
das Formlose und Schiefe soll zur Form erst
gefunden werden. Ihre Karikatur ist Ausdruck
des Mitleidens am Schmerz der Bewußtlosigkeit
Antonios, um über das Zerrissene hinaus Ansatzpunkte
für Verknüpfungen zu finden. Der Klage Antonios:
„‘ ... das ist alles, was ich davon weiß, und
das sind doch nur einzelne Bilder ohne Zusammenhang.
Ach! dieses trostlose Alleinstehen in der Welt,
das läßt mich zu keiner Fröhlichkeit kommen,
so gut es mir nun auch gehen mag’“ (IV, 451),
hört sie zu und beugt seine Schmerzen, indem
sie ihn immer wieder ermuntert, nur fortzufahren,
nicht nachzulassen in seiner Anstrengung, Verschüttetem
nachzugraben. Sie bleibt an seiner Seite, fügt
seinen Erinnerungsfetzen einige Stücke hinzu
und gibt sich nach dem Erzählen ihres Schicksals
als seine Amme Margareta zu erkennen. In das
Mosaik seiner Erinnerung setzt sie Stein um
Stein, bis er zu seiner Identität zurückgefunden
hat. Das
ist der zweite Schritt zu seiner Heilung. Ein
wunder Punkt seiner Vergangenheit bleibt noch
verschwommen im Halbdunkel am Rand des Bewußtseins:
seine Liebe zu einem Mädchen, das er als Kind
kennengelernt und dann sogleich aus den Augen
verloren hat. Ließ ihn die Therapie der Alten
seine Selbstachtung wiederfinden, forciert sie
jetzt den Heilungsprozeß, indem sie die Liebenden
über zahlreiche Umwege zusammenführt. Am Krankenbett
Annunziatas weckt Margareta alle Rückerinnerungen.
Hilfe leisten der Traum Annunziatas und die
Traumdeutung der Alten. Annunziatas Leiden über
vergebliche Versuche des Entsinnens mündeten
in die stille Trauer der Melancholie. Margareta
diagnostiziert die Krankheit in einem solchen
Bild:
„‘Aber da blickt sie mich an mit Augen - Tonino!
- mit Augen, wie ich sie noch gar nicht gesehen,
und kaum hab ich hineingeschaut (...) so bergen
sie sich hinter die seidnen Wimpern wie hinter
dunkles Gewölk. Und dann seufzt sie aus tiefster
Brust und kehrt das holde blasse Antlitz der
Wand zu und lispelt leise, ganz leise, aber
so wehmütig, daß es mir gerade ins Herz sticht
(...) Ich hole mir einen kleinen Stuhl (...)
ich fange an, von dir zu erzählen’“ (IV, 447).
Margareta führt die getrennten Liebenden am
Ende zusammen über die Erinnerungen, die sie
in beiden weckt. Sie hebt zunächst den Identitätsverlust
Antonios auf und verbannt die Melancholie Annunziatas.
Diese Selbstfindung erst ist Voraussetzung für
die Suche nach dem anderen. Ihre Mittel sind
Gespräche, die goldene Brücke vom Unbewußten
zum Bewußtsein ist der Traum. Auch er hat in
dieser Erzählung therapeutische Wirkung, weil
er Teile dem Bewußtsein zuführt, solange bis
über die Deutung Margaretas Bewußtsein und Unbewußtes
zur Deckung gebracht sind und sich im Ich wiederfinden,
das gleichzeitig das Du mit einschließt: „Unter
tausend Küssen, unter tausend Tränen schwuren
sich die Liebenden ewige Treue, sie vergaßen
die furchtbaren Ereignisse der schrecklichsten
Tage, den Blick von der Erde abgewandt, schauten
sie auf [in] den Himmel, den ihnen der Geist
der Liebe erschlossen“ (IV, 483).
Die Funktion des Arztes und die Intention der
Kunst scheinen hier in kongenialer Weise zusammengeführt
zu sein. Der Arzt hat Identitäten hergestellt
und Getrennte vereint. Der Künstler soll das
auch leisten, der Kommentar des Erzählers am
Eingang läßt daran keinen Zweifel:
„‘Es ist ein eignes Geheimnis, daß in dem Gemüt
des Künstlers oft ein Bild aufgeht, dessen Gestalten,
zuvor unkennbare körperlose, im leeren Luftraum
treibende Nebel, eben in dem Gemüte des Künstlers
erst sich zum Leben formen und ihre Heimat zu
finden scheinen. Und plötzlich verknüpft sich
das Bild mit der Vergangenheit oder wohl auch
mit der Zukunft und stellt nur dar, was wirklich
geschah oder geschehen wird’“ (IV, 431).
Beiden, dem Künstler und dem Arzt, ist nach
Auffassung Hoffmanns eines gemeinsam: die Fähigkeit
des Sehers, Ereignisse, die in der Zukunft liegen,
wahrzunehmen. Der Künstler verbindet zunächst
Gegenwärtiges mit Verganenem. Kolbes Gemälde
- von ihm nimmt die Erzählung seinen Ausgang
- aus dem Jahr 1816 greift eine Begebenheit
aus dem Jahr 1354 auf. Er kann aber auch über
eine als unbefriedigend empfundene Gegenwart
hinaus Bilder aufstellen, in denen sein Ideal,
als Wunsch in die Zukunft projiziert, vorweggenommen
wird. Auch das thematisiert diese Erzählung,
wie Naum Jakowlewitsch Berkowski in einer großartigen
Interpretation bilanzierend fand: „Hoffmann
sucht die Einheit des Lebens und aller Lebenskräfte,
strebt nach lebendigem Tatendrang und nach Aktivität
für alle handelnden Personen,
fordert die tiefe Verbindung mit der Welt, in
der sie leben“
11.
Aber der Wunsch setzt ja immer einen Mangel
voraus. Erneut verbietet sich - wie bei der
Genesung - jede Harmonisierung, nichts geht
auf, und alle Hauptfiguren kommen um.
Hoffmann läßt seinen auktorialen Erzähler die
Entfremdung der Menschen schildern und die Ursachen
dafür. Die Größe und Prachtentfaltung der Stadt,
die sich die Menschen geschaffen haben, werden
breit und eindrucksvoll dargestellt. Aber die
gleichen Menschen ließen ihre seelische Entwicklung
verkümmern. Deswegen verliert die Stadt im Lauf
der Erzählung zusehends ihre Schönheit. Die
wahren Kennzeichen eines vordergründig pulsierenden
Lebens sind Eitelkeit und Prunksucht, Diebstahl
und Betrügereien, Intrigen und Verrat, Folterungen
und Hinrichtungen, ausgeheckte Pläne zur Kriegsführung
und ängstlich getroffene Vorbereitungen, sich
gegen drohende Angriffe zu wehren. Die drei
Hauptfiguren, Antonio, Annunnziata und die Alte
(Margareta) wollen schließlich mit einem kleinen
Kahn über das Meer fliehen, um den Intrigen
der Stadt zu entkommen. Sie werden vom Sturm
überrascht und ertrinken. Diese Schlußbild mit
dem schaukelnden Kahn im tobenden Meer ist eine
Metapher, die weitere dunkle Stellen in der
Erzählung erhellt.
In Doge und Dogaresse stellt Hoffmann in grandioser
Weise den romantischen Mythos dar als kosmisches
Element, als Aufruhr der Natur, die ihre zerstörerischen
Kräfte entfaltet, um sich gegen die Menschen
zu wenden. Der Erzähler kontrastiert von Anfang
an den goldenen Glanz der Stadt mit einem rötlichen
Widerschein, den die rebellierenden Naturgewalten
dagegen aufblitzen lassen:
„Die Abendsonne warf ihre glühenden Strahlen
über das Meer, über Venedig hin, so daß alles
in lodernden Flammen stand; aber wie Antonio
in Vergessenheit alles Kummers ganz entzückt
hinschaute, wurde der Schein immer blutiger
und blutiger. Ein dumpfes Sausen ging durch
die Lüfte, und wie ein furchtbares Echo hallte
es wider aus der Tiefe des Meeres. Der Sturm
kam daher gefahren auf schwarzen Wolken und
hüllte alles in dicke Finsternis ein, während
aus dem brausenden Meere höher und höher die
Wellen wie zischende schäumende Ungeheuer emporstiegen
und alles zu verschlingen drohten (...). Statt
des fröhlichen Jubels der Zinken und Trompeten
hörte man durch den Sturm den Angstschrei der
Bedrängten“ (IV, 439).
Hier werden Kräfte sichtbar, ein alles erfassender
Prozeß, dessen fester, lebendiger Teil einmal
der Mensch war. Im Vordergrund der Erzählung
bleibt zwar die geschäftige Welt Venedigs, aber
vom Licht des Kosmos erhellt, erscheint sie
plötzlich armselig; alle ursprünglich reichen
Anlagen des Menschen sind verkümmert, ihre Seelen
verdorben, ihre Kräfte erschöpft. Im Hintergrund
leuchtet der Mythos auf, die Einheit von Mensch
und Natur in alter Zeit. In Umrissen wird die
triadische Denkfigur sichtbar: Antonio und Annunziata
hatten sich als Kinder in der Natur für kurze
Zeit gefunden, sie werden dann voneinander getrennt
und sehen sich auf Jahre hinaus nicht mehr.
In der Mitte der Erzählung - beide sind erwachsen
- begegnen sie sich wieder, aber sie sind sich
und der Welt entfremdet. Doch in dem Augenblick,
in dem sie sich wiedererkennen und sie sich
erneut umarmen, ist es zu spät, die Natur läßt
sie untergehen.
Hoffmanns Gedanken kehren immer wieder zu diesem
Thema des großen Verlusts zurück und variieren
es auf der Suche nach Möglichkeiten seiner Gestaltung.
Hielt in Die Genesung die Natur gleichsam den
Atem an - es war die lautlose Stille einer Verweigerung
-, so ist in Doge und Dogaresse ihre Empörung
geschildert.
Copyright by Friedhelm Auhuber, 1997
Anmerkungen
Hochgebietende Vernunft, mißtönend wie verstimmte
Glocken
E.T.A. Hoffmann und die Psychologie seiner Zeit
1: Ludwig Börne : Die Serapionsbrüder.
Von E.T.A. Hoffmann [1820].
In: Sämtliche Schriften. Neu bearbeitet und
herausgegeben von Inge und Peter Rippmann. Düsseldorf:
Melzer, 1964, Bd. 2, S. 562.
2: Julius Eduard Hitzig
: E.T.A. Hoffmanns Leben und Nachlaß. Mit einem
Nachwort von Wolfgang Held. Frankfurt am Main:
Insel, 1986, S. 304 f. (Fußnote). [Wiederabgedruckt
nach der Ausgabe: Julius Eduard Hitzig, Aus
Hoffmann’s Leben und Nachlaß. Herausgegeben
von dem Verfasser des Lebensabrisses Friedrich
Ludwig Zacharias Werners, Teil 1: XIV S.; 336
S., Teil 2: 380 S., Berlin 1823].
ZURÜCK
3: Theodore Ziolkowski
: Das Amt der Poeten. Die deutsche Romantik
und ihre Institutionen. Stuttgart: Klett-Cotta,
1992, S. 173.
ZURÜCK
4: Die immer noch beste
und zuverlässigste Darstellung zum Komplex Sozialgeschichte
der Psychiatrie im europäischen Rahmen liefert
Klaus Dörner: Bürger und Irre. Zur Sozialgeschichte
und Wissenschaftssoziologie der Psychiatrie.
Frankfurt am Main: Fischer, 1975
[1. Aufl. Europäische Verlagsanstalt, 1969].
ZURÜCK
5: Johann Christian
Reil : Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen
Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle 1803.
(zit. Rh). Ders.: Ueber die Erkenntniß und Cur
der Fieber. 4 Bde. Halle 1802-1807. Bd. IV:
Nervenkrankheiten. 2. Aufl. Halle 1805 (zit.
ECF).
ZURÜCK
6: Sigmund Freud :
Das Unheimliche [1919]. In: Gesammelte Werke,
Bd. XII, S. 227-268. London 1947. Freud, der
ästhetische ‘Fälle’ wie Fälle aus der Realität
als Beweismaterial seiner Theorien über das
Unbewußte heranzog und viel Wert darauf legte,
daß die Dichter und er in der Analyse im Ergebnis
übereinstimmten, reduzierte die Vieldeutigkeit
der Erzählung auf zwei Aspekte: auf die Angst
Nathanaels vor dem Verlust seiner Augen als
verschleierte Kastrationsangst und auf den Narzißmus
als Folge der nichtbewältigten frühkindlichen
Traumata. Freud stellt bewundernd fest, der
Dichter habe die Bausteine der Erzählung in
der Tat nicht so durcheinander gewirbelt, daß
man ihre ursprüngliche Anordnung nicht wiederherstellen
könnte.
ZURÜCK
7: Zitate aus Hoffmanns
Werk folgen der Aufbau-Ausgabe: Ernst Theodor
Amadeus Hoffmann: Gesammelte Werke in zwölf
Einzelausgaben [nur 9 davon sind erschienen],
bearbeitet und erläutert von H.-J. Kruse, R.
Mingau und V. Liebrenz. Berlin und Weimar 1976
ff. Die Nachweise (Bandzahl und Seitenangabe)
finden sich am Ende des Zitats.
ZURÜCK
8: Siehe Anmerkung 2,
S. 441 f.
<
ZURÜCK
9: Darauf hat zuerst
Claudio Magris: Die andere Vernunft. E.T.A.
Hoffmann. Königstein/Ts.: Hain, 1980, S. 3,
aufmerksam gemacht: „Die Szene der großen befreienden
Begegnung mit dem Grün der Natur wird so zu
einer Begegnung, die genauso illusorisch, unwirklich
und trügerisch erscheint wie die vorangegangenen
Halluzinationen. Die Ironie könnte sogar das
erzählte Psychodrama der Genesung treffen und
damit den heuchlerischen Anspruch der Wissenschaft,
(...) dem Menschen ein Gut zurückzugeben, von
dem er in Wirklichkeit endgültig und irreparabel
getrennt worden ist. Indem er die Fähigkeit
wiedererlangt, ein Grün zu sehen, das es für
ihn möglicherweise nicht oder nicht mehr gibt,
wird dem Alten eine geistige Klarheit durch
die wissenschaftliche Therapie nicht wiedergegeben,
sondern genommen (...) .“ Diese außerordentlich
kühne Deutung entspricht gewiß nicht dem ersten
Lektüre-Eindruck, fordert aber heraus, die Diagnose
nochmals zu lesen.
ZURÜCK
10: So behält die tiefsinnige
Deutung von Claudio Magris recht. Wenn erst
die Krankheit eine Klarsicht ermöglicht, die
der Gesunde nicht oder nicht mehr hat, weil
fortschreitende Spezialisierung in der Wissenschaft
dort Zusammenhänge verdeckt, wo es gerade um
Erkenntnis ginge, dann ist die Verringerung
des Abstandes von Idealem zu Realem nicht mehr
möglich.
ZURÜCK
11: Naum Jakowlewitsch
Berkowski : Die Romantik in Deutschland. Leipzig:
Koehler & Amelang, 1979, S. 635.
ZURÜCK
ZUM
ANFANG
|