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Friedhelm Auhuber

Henkersmahl

Essay von Friedhelm Auhuber für das 3-Bändige
Kunstwerk in Buchform "Kinderszenen".

Buch Kinderszenen

 Henkersmahl                                                           08/02


Immer sind sie von belanglosen Tanten mit festen 
moralischen und religiösen Grundsätzen gezogen worden;
naturgemäß waren sie allesamt limitiert, aber sie zerrten an
ihnen herum. Eine, seit 30 Jahren erhielt sie Rente, 
formulierte nichts als Kalendersprüche: Messer Gabel 
Schere Licht... die andere wiederholte in dumpfer 
Monotonie - sie konnte weder lesen noch schreiben: 
dumm bin ich nicht nein dumm bin ich nicht.

Beaufsichtigten sie die zwei Buben auf Wunsch der Eltern 
für einen Nachmittag, waren sie dem nie gewachsen. 
Wie sollten sie auch die Lebhaften bändigen. Kehrten die
Eltern zurück, klagten sie endlos über alle Ungezogenheiten.
Drohende Blicke signalisierten Unheil. Die Kinder krochen
zuerst in sich hinein und rückten dann zusammen, suchten 
die Hände des andern und krallten sich fest. Waren die
Tanten gackernd über die Treppe verschwunden und der
Mottengestank ihrer braunen Mäntel verweht, kehrte
Totenstille ein. Die Möbel rückten schemenhaft zurück,
verschleierte Kinderaugen weiteten den Raum. Vor dem
Abendessen kündigte der Vater die Schläge unmittelbar 
nach dessen Ende an. Niemals wird der Große die eine
Stunde vor der Hinrichtung vergessen. Die Delinquenten
deckten den Tisch, schleppten mechanisch alles herbei: 
der Kleine mit beiden Händen den Laib Brot wie ein
Neugeborenes auf den Armen, der Große
Butterkäsesalzundwurst.

Die Kinder suchten im Vorbeigehen die Berührung. 
Der Mächtige saß schon an der Spitze der Längsseite und
rührte sich nicht. Wenn nur die Wege länger wären von 
der Küche hin zum Tisch. Die Mutter huscht demütig ans
andere Ende; mit gesenktem Blick sitzt sie dem
Zweithöchsten gegenüber. Er kam in ihren Augen gleich 
nach Gottvater. Die Kinder ducken sich in die Stühle 
hinein. Auf sein stummes Zeichen falten alle die Hände. 
Der Zweite betet jetzt zum Ersten voller Inbrunst, läßt
niemand aus, auch die Tanten nicht, nur die Kinder 
bleiben vor dem Gericht vom Gebet getrennt. Unser 
täglich Brot gib uns heute. Dieses eine Mal wagt der 
ältere der Brüder gleichzeitig mit dem Zweiten zum Ersten 
zu beten: Lieber Gott hilf, daß ich nicht satt werde. Amen.
Die Mutter ritzt mit der Spitze des Messers ein Kreuz auf
den Laib, schneidet ihn an und belegt die Brote. Die Macht
sitzt und schweigt und mahlt und schluckt. Die Mutter 
schiebt mit der Linken und der Rechten dem Kleinen und
dem Großen die erste Scheibe auf den Teller. Vier 
Händchen zittern hin. Der Kleine sucht den Großen mit
flehenden Augen. Nie mehr hat der solche Angst gesehen.
Bitte Mutti noch ein Brot. Der Große schämt sich - er kann 
nicht helfen. Bitte Mutti noch ein Brot. Zum erstenmal kauen
die Kinder Bissen für Bissen. Der Große zählt bei jedem bis
sechzig, wie's die Mutter immer wünschte. Dreißig links
dreißig rechts. Der Brei rutscht hinunter. Bitte Mutti noch 
ein Brot. Finger streifen heimlich ins Gesicht.
Bittemuttinocheinbrot. Tränen laufen über die Wangen bis
zum Hals und versickern, die Hände halten sie nicht mehr.

Bittemuttinocheinbrot. Die Kinder schlucken, schlucken,
drehen die Augen zu ihr. Bittemutti-nocheinbrot. Jetzt ist
Schluß! bestimmt der Mächtige. Er war satt.
Bittemuttinocheinbrot weint der Kleine, würgt der Große.
Erst der Kleine, dann der Große, bestimmt ER. Der 
Große mußte zusehen, wie ER sich vom Tisch erhob und 
sich mit versteinertem Gesicht dem Jüngeren zuwandte, 
der aufstand und wartete. ER nahm den Körper und 
zwängte ihn zwischen die Beine, drückte ihn fest zusammen
und drosch mit Kochlöffel und Bambusstecken auf Rücken
und Hintern. In diesen Minuten haßte der Große die Macht
abgrundtief. Der Kleine fiel zu Boden, die Mutter zog ihn 
hin zum Sofa. Ein kaltes Zeichen mit dem Holz. Doch 
der Große weigert sich. Alle Drohungen helfen nichts,
er kommt nicht näher. ER jagt ihn um den Tisch, sie sitzt
fasziniert gebannt und läßt das Kind laufen. ER stellt drei
Stühle in den Weg, das Kind springt mit Riesensätzen 
drüber. Als ER es, sich der Lächerlichkeit der ganzen 
Szene bewußt werdend, endlich zu fassen kriegt, ist die 
Wut unbeschreiblich. Der erste Schlag schon vernichtet 
das Kind. Lieber Gott wo bist du? Verwünschungen. 
Lieber Gott so hilf mir doch. Ich bringe dir noch Gehorsam
bei. Vergib mir meine Sünden. Du wirst nie mehr 
wegrennen. Lieber guter Vater hol mich heim. Die Schläge
fallen schweigend und schütten ein Kinderleben aus. 
Lieber Gott ich komme jetzt zu dir. Der Körper rutscht
hinunter. Die Mutter trägt zuerst den Kleinen, dann den
Großen und legt die wimmernden Häuflein ins Bett, zieht 
die Decke hoch, löscht das Licht und schließt die Tür. 
Am Morgen versuchen die Kinder, an IHM und IHR
vorbeizukommen. Vergeblich. Beide heben die
Nachthemden der Hingerichteten. Sie wollten die Male
sehen. Hatte die Angst einen Teil der Kinderseelen
verschluckt, so nagte die Scham jetzt an den offenen
Rändern.


Copyright by Friedhelm Auhuber, 1997
                                                                


Friedhelm Auhuber, 2002. 
Foto Susanne Zametzer


Buchumschlag zu Kinderszenen


Titelseite von Kinderszenen


Grafik aus Kinderszenen


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