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Immer sind sie von belanglosen Tanten mit
festen
moralischen und religiösen Grundsätzen gezogen worden;
naturgemäß waren sie allesamt limitiert, aber sie
zerrten an
ihnen herum. Eine, seit 30 Jahren erhielt sie Rente,
formulierte nichts als Kalendersprüche: Messer
Gabel
Schere Licht... die andere wiederholte in dumpfer
Monotonie - sie konnte weder lesen noch schreiben:
dumm bin ich nicht nein dumm bin ich nicht.
Beaufsichtigten sie die zwei Buben auf Wunsch der
Eltern
für einen Nachmittag, waren sie dem nie gewachsen.
Wie sollten sie auch die Lebhaften bändigen. Kehrten die
Eltern zurück, klagten sie endlos über alle
Ungezogenheiten.
Drohende Blicke signalisierten Unheil. Die Kinder krochen
zuerst in sich hinein und rückten dann
zusammen, suchten
die Hände des andern und krallten sich fest. Waren die
Tanten gackernd über die Treppe verschwunden und der
Mottengestank ihrer braunen Mäntel verweht, kehrte
Totenstille ein. Die Möbel rückten schemenhaft zurück,
verschleierte Kinderaugen weiteten den Raum. Vor dem
Abendessen kündigte der Vater die Schläge
unmittelbar
nach dessen Ende an. Niemals wird der Große die eine
Stunde vor der Hinrichtung vergessen. Die Delinquenten
deckten den Tisch, schleppten mechanisch alles
herbei:
der Kleine mit beiden Händen den Laib Brot wie ein
Neugeborenes auf den Armen, der Große
Butterkäsesalzundwurst.
Die Kinder suchten im Vorbeigehen die Berührung.
Der Mächtige saß schon an der Spitze der Längsseite und
rührte sich nicht. Wenn nur die Wege länger wären
von
der Küche hin zum Tisch. Die Mutter huscht demütig ans
andere Ende; mit gesenktem Blick sitzt sie dem
Zweithöchsten gegenüber. Er kam in ihren Augen
gleich
nach Gottvater. Die Kinder ducken sich in die Stühle
hinein. Auf sein stummes Zeichen falten alle die Hände.
Der Zweite betet jetzt zum Ersten voller Inbrunst, läßt
niemand aus, auch die Tanten nicht, nur die Kinder
bleiben vor dem Gericht vom Gebet getrennt. Unser
täglich Brot gib uns heute. Dieses eine Mal wagt
der
ältere der Brüder gleichzeitig mit dem Zweiten zum
Ersten
zu beten: Lieber Gott hilf, daß ich nicht satt werde.
Amen.
Die Mutter ritzt mit der Spitze des Messers ein Kreuz auf
den Laib, schneidet ihn an und belegt die Brote. Die Macht
sitzt und schweigt und mahlt und schluckt. Die
Mutter
schiebt mit der Linken und der Rechten dem Kleinen und
dem Großen die erste Scheibe auf den Teller. Vier
Händchen zittern hin. Der Kleine sucht den Großen mit
flehenden Augen. Nie mehr hat der solche Angst gesehen.
Bitte Mutti noch ein Brot. Der Große schämt sich - er
kann
nicht helfen. Bitte Mutti noch ein Brot. Zum
erstenmal kauen
die Kinder Bissen für Bissen. Der Große zählt bei jedem
bis
sechzig, wie's die Mutter immer wünschte. Dreißig links
dreißig rechts. Der Brei rutscht hinunter. Bitte Mutti
noch
ein Brot. Finger streifen heimlich ins Gesicht.
Bittemuttinocheinbrot. Tränen laufen über die Wangen bis
zum Hals und versickern, die Hände halten sie nicht mehr.
Bittemuttinocheinbrot. Die Kinder schlucken, schlucken,
drehen die Augen zu ihr. Bittemutti-nocheinbrot. Jetzt ist
Schluß! bestimmt der Mächtige. Er war satt.
Bittemuttinocheinbrot weint der Kleine, würgt der Große.
Erst der Kleine, dann der Große, bestimmt ER. Der
Große mußte zusehen, wie ER sich vom Tisch erhob
und
sich mit versteinertem Gesicht dem Jüngeren
zuwandte,
der aufstand und wartete. ER nahm den Körper und
zwängte ihn zwischen die Beine, drückte ihn fest
zusammen
und drosch mit Kochlöffel und Bambusstecken auf Rücken
und Hintern. In diesen Minuten haßte der Große die Macht
abgrundtief. Der Kleine fiel zu Boden, die Mutter zog
ihn
hin zum Sofa. Ein kaltes Zeichen mit dem Holz. Doch
der Große weigert sich. Alle Drohungen helfen nichts,
er kommt nicht näher. ER jagt ihn um den Tisch, sie sitzt
fasziniert gebannt und läßt das Kind laufen. ER stellt
drei
Stühle in den Weg, das Kind springt mit Riesensätzen
drüber. Als ER es, sich der Lächerlichkeit der
ganzen
Szene bewußt werdend, endlich zu fassen kriegt, ist
die
Wut unbeschreiblich. Der erste Schlag schon
vernichtet
das Kind. Lieber Gott wo bist du? Verwünschungen.
Lieber Gott so hilf mir doch. Ich bringe dir noch Gehorsam
bei. Vergib mir meine Sünden. Du wirst nie mehr
wegrennen. Lieber guter Vater hol mich heim. Die Schläge
fallen schweigend und schütten ein Kinderleben aus.
Lieber Gott ich komme jetzt zu dir. Der Körper rutscht
hinunter. Die Mutter trägt zuerst den Kleinen, dann den
Großen und legt die wimmernden Häuflein ins Bett,
zieht
die Decke hoch, löscht das Licht und schließt die Tür.
Am Morgen versuchen die Kinder, an IHM und IHR
vorbeizukommen. Vergeblich. Beide heben die
Nachthemden der Hingerichteten. Sie wollten die Male
sehen. Hatte die Angst einen Teil der Kinderseelen
verschluckt, so nagte die Scham jetzt an den offenen
Rändern.
Copyright by Friedhelm Auhuber, 1997
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